„Dem gebührengepäppeltem Spaßmacher Böhmermann ist es offenbar kaum vorstellbar, dass viele Menschen nicht zwei Monate von Erspartem leben können.“

Die Corona-Pandemie wird beschrieben als eine der schlimmsten Katastrophen seit langer Zeit. Aber ist sie das wirklich? Seit einigen Wochen arbeite ich von zu Hause aus, was dank moderner Technik problemlos funktioniert. Das erspart mir täglich bis zu zwei Stunden Pendelei, die ich nun mit meinem Sohn im Garten genießen kann. Sollten wir die Krise nicht auch als Chance zur Entschleunigung und zur Rückkehr zum Wesentlichen betrachten?

Zu ähnlichen Aussagen lässt sich derzeit manch ein Prominenter hinreißen. So sinnierte Deutschlands eleganteste Denkersimulation, Richard David Precht, vor kurzem bei „Lanz“ über den „meditativen Aspekt“ der neuen Situation. Zwar zählte er dabei einige Ausnahmen auf, unter anderem Pflegekräfte und Menschen, die sich um Angehörige sorgen (wer tut das nicht?), behauptete dann aber trotzdem beeindruckend selbstbewusst, „die größte Mehrheit“ gehöre zur Gruppe, bei der eine „gewisse Besinnlichkeit“ ins Leben eingezogen sei.

Derweil ärgert sich der als Komiker getarnte Moralprediger Jan Böhmermann in seinem Podcast über das ganze „Wirtschaftsgequatsche“ und zeigt sich „total erstaunt, wie wenig die Leute improvisieren können“. Als gebührengepäppeltem Spaßmacher ist es für ihn offenbar kaum vorstellbar, dass viele Menschen nicht ohne Weiteres für zwei Monate von Erspartem leben können.

Mit Homeoffice, vollem Gehalt und Rücklagen für den Notfall ist es nicht schwer, in wohlige Krisenromantik zu verfallen. Aber laut einer aktuellen Umfrage ist Heimarbeit für die Mehrheit der Fachkräfte mit Berufsausbildung keine Option. Nach Zahlen der Bundesbank (2016) haben 29 Prozent aller Haushalte in Deutschland entweder keinerlei Vermögen oder sogar Schulden. Für viele dieser Menschen ist die größte Rezession seit der Weltwirtschaftskrise von 1929, wie sie der Internationale Währungsfonds am Dienstag konstatiere, sehr wohl eine Katastrophe. Und selbst bei Gutsituierten dürfte bei Anwesenheit unbetreuter Kinder im Kita- und Grundschulalter wenig meditative Besinnlichkeit ins Heimbüro einziehen.

Und wie ist es mit der Erholung der Natur, über die sich Precht und andere öffentlichkeitsaffine Intellektuelle freuen, die von sauberen Kanälen in Venedig und dem flugzeuglosen Himmel über Düsseldorf schwärmen? Auch die spielt sich vor allem in einer Wohlstandsblase ab. Der Lage des internationalen Artenschutzes hingegen ist verheerend, wie „Spektrum der Wissenschaft“ berichtet. Ohne den Ökotourismus brechen Schutzprojekten überall auf der Welt die wichtigsten Einnahmen weg. Mit der drohenden Verarmung der Bevölkerung steigt auch die Gefahr für Wildtiere, die wieder zur wichtigen Notressource werden. „Alles, was ein Horn hat, ist heute gefährdeter als gestern“, sagt Matt Brown von der Umweltorganisation The Nature Conservancy. Dem Spitzmaulnashorn in Kenia sind die
sogenannten Chancen der Krise eben genauso fern wie der beschäftigungslosen Friseurin in Veltenhof.