Isenbüttel. Darum setzen die Wahlverteidiger im Strafprozess um eine Attacke auf den Schwager auf Täter-Opfer-Ausgleich.

Die schlimmste Viertelstunde im Leben einer jungen Isenbütteler Familie analysierte das Landgericht Hildesheim am Donnerstag wie in Zeitlupe. Zwischen 19.30 und 19.43 Uhr stach der Angeklagte, der 41 Jahre alte Familienvater, am 13. Oktober 2022 in der Küche mit einem 22 Zentimeter langen Brotmesser auf seinen Schwager ein. Der 30-jährige Sparkassenangestellte überlebte nur um Haaresbreite.

Zuvor hatte der geständige Angeklagte seine Frau im Streit mit einem Glas beworfen und sie mit der Faust auf die Schulter geschlagen – bei weitem nicht zum ersten Mal, wie die Beweisaufnahme ergab. Die drei kleinen Kinder des Paares mussten alles mit ansehen.

Die Kammer um Richter Rainer de Lippe leuchtete von Beginn an alle Hintergründe des Dramas aus. Kommt in dem Fall doch erkennbar die kulturelle Zerrissenheit einer deutsch-indischen Familie hinzu.

Höchststrafe: Lebenslänglich auch bei versuchtem Mord

Das mögliche Strafmaß für versuchten Mord reicht bis zu lebenslanger Haft. Die zwei Hamburger Wahlverteidiger des Angeklagten agierten von Beginn an entschlossen, ihrem Mandaten diese Höchststrafe zu ersparen.

Das führte für Hildesheimer Verhältnisse zu ungewohnten Szenen im Gericht. Strafverteidiger Dirk Meinicke wurde im strengen Kreuzverhör mit dem Opfer und Nebenkläger laut. Richter de Lippe wurde lauter: „Hey, Leute!“, rief er die Prozessbeteiligten zur Ordnung, als Staatsanwalt und Opferanwältin Meinickes Vorhalte mal als unzulässig, mal als falsch zitiert zurückwiesen. Den Pflichtverteidiger, der sich unbestritten nicht einmal beim Angeklagten in der Untersuchungshaft sehen ließ, bootete das Verteidiger-Duo gleich zu Prozessbeginn aus.

Hamburger Strafverteidiger mit eigenem Drehbuch

Ihre knallharte Strategie folgt einem eigenen Drehbuch: Der Angeklagte gibt die Messerattacke im Grundsatz zu. Außerdem strebt er einen Täter-Opfer-Ausgleich mit Schmerzensgeldzahlung und Bitte um Vergebung an. Parallel hinterfragt Meinicke den Tatablauf: War wirklich alles so klar? Kam das Opfer arglos in die Wohnung und wurde es binnen einer Sekunde von der Messerattacke überrumpelt? Oder war der Schwager aus Furcht um Schwester, Nichten und Neffen doch von vornherein entschlossener, für den Täter gefühlt bedrohlich?

„Bei einer so schwerwiegenden Anklage kommt es auf die Nuancen der Umstände an, auf Beweggründe und Atmosphäre“, erklärte Meinicke sein Vorgehen allen Beteiligten.

Zuvor hatte sein Partner Patrick Purbacher den Nebenkläger gefragt, ob er an Gott und an Vergebung glaube? Auch hier zuckten alle Verfahrensbeteiligten zusammen: Wohin soll das führen? Der Vorsitzende wartete gespannt ab.

Bitte um Vergebung in der Muttersprache

Also, würde das Opfer die Bitte um Vergebung des Angeklagten annehmen? Dieser wandte sich persönlich in seiner Muttersprache an den Schwager, übersetzt durch einen Dolmetscher: „Was passiert ist, tut mir leid. Ich habe dich nie gehasst. Ich bitte dich um Vergebung.“

Doch zum jetzigen Zeitpunkt sei er nicht dazu in der Lage, entgegnete der Nebenkläger. Dann war es an Anwalt Purbacher, auch diesen Schritt einzuordnen: „Täter-Opfer-Ausgleich erfordert Kommunikation. Es geht um den Rechtsfrieden. Es geht um das Weiterleben.“

Weitere Einlassungen des Angeklagten nur schriftlich

„Das kann man so machen“, sagte der Vorsitzende im Nachhinein zu dieser Strategie. Von Beginn an hatte er gleichwohl klargemacht, dass die Kammer streng nach Strafprozessordnung verfährt. De Lippe: „Ich bin hier der Moderator.“

Das war nicht unwichtig, hatten sich die Verteidiger doch ausbedungen, dass der Angeklagte sich zu Tat-Fragen der Kammer nur durch sie schriftlich äußere.

Bereits das vorformulierte Geständnis zu Prozessbeginn las der Verteidiger vor, dann noch die Einladung zum Täter-Opfer-Ausgleich.

Laut Anklage des Staatsanwalts war der Schwager am 13. Oktober 2022 spontan zur Familie seiner Schwester gefahren, als er sie bei der abendlichen Whats-App-Familienrunde mit den Eltern in Indien unvermittelt schreien hörte.

Durch die Messerattacke sei das Opfer lebensgefährlich verletzt worden an Lunge, Magen, Darm, Zwerchfell und Oberarm. Die Folgen sind längst nicht überwunden. So kann der Banker kaum sitzen – die Fragen des Richters beantwortete er stehend. Sein Verhältnis zum Mann seiner Schwester sei stets gut gewesen: „Er war wie mein älterer Bruder.“ Dass der Haussegen wegen lange Zeit ausbleibenden männlichen Nachwuchses schief hing, deutete sich anscheinend nur an. Erst auf hartnäckige Nachfrage sprach der Nebenkläger eher vage von „häuslicher Gewalt“.

Ehefrau schildert: Gewalt und Beleidigungen waren an der Tagesordnung

Doch in Wahrheit, das rang sich dann die Ehefrau des Angeklagten ab, herrschte Terror: Sechs Monate vor der Messerattacke begann ihr Ehemann, dessen Alkoholproblem noch mit einem Psychiater im Prozess erörtert werden soll, sie zu ohrfeigen und zu boxen. Ein deutsches Wort zu viel oder Liaisons von Mitgliedern ihrer Familie mit deutschen oder russischen Partnern, das waren die Auslöser. Als „schmutzig“ oder als „Hunde“ beschimpfte der Mann seine Frau und ihre Angehörigen. Der Dolmetscher übersetzte noch weitaus obszönere Begriffe aus der Muttersprache. Die hatte die Ehefrau erst auf wiederholte Nachfrage des Richters preisgegeben.

Mehr wichtige Nachrichten aus dem Landkreis Gifhorn lesen:

Täglich wissen, was in Gifhorn passiert: Hier kostenlos für den täglichen Gifhorn-Newsletter anmelden!