Wesendorf. Seit drei Jahren ersetzen in einem Pilotprojekt Klassenassistentinnen Schulbegleiter. Leiter Jörg Bratz wirbt um Unterschriften für eine Petition.

Seit drei Jahren gibt es ein besonderes Inklusions-Pilotprojekt an der Grundschule in Wesendorf: das der Klassenassistenz. Es läuft so erfolgreich, dass sich Schuldirektor Jörg Bratz als Vorsitzender des Vereins Leitungen Niedersächsischer Grundschulen (LNGS) nun mit einer Petition an den Landtag wendet, daraus eine Dauereinrichtung zu machen.

7.45 Uhr. Die Klassenassistentin Natalie Dietrich fragt Marina, ob die neue Katze schon eingezogen ist. Ein anderes Kind berichtet, wie sie gestern ihre Mutter besucht hat, die im Krankenhaus liegt. Die Mutter des neuen Kindes aus der Ukraine hat Fragen zum Elternzettel, der kürzlich verteilt wurde. Dietrich steht auf und hilft beim Übersetzen. Nebenan ist auch an der Garderobe viel los: Ein Schuh wird gesucht. Tränen fließen. Die Klassenassistentin hilft und tröstet.

Klassenlehrerin Christine Melzer kann sich derweil voll auf den Unterricht konzentrieren. Bei der morgendlichen „Sprechstunde“ lässt sie die Kinder Kopfrechen- und Leseaufgaben vor- und aufsagen. Sie bespricht einige der Fehler von gestern und gibt Hilfsmaterial aus. Um 8.05 Uhr beginnt der Morgenkreis.

Schulbegleiter dürfen sich nur um ein Kind kümmern

„Wir haben immer mehr Kinder, die feste und starke Strukturen und eine klare Ansprache benötigen“, erklärt Schuldirektor Bratz. „Das sind Herausforderungen, die bekannt sind. Nur wer sich wohl fühlt, kann gut lernen.“ Kinder hätten dafür besondere Bedürfnisse: Hat meine Lehrkraft Zeit für mich? Interessiert sie sich für mich? Ist die Schule ein Wohlfühlraum? Lernen findet laut Bratz immer in Beziehung zur Lehrperson statt. Und der Beziehungsaufbau benötige vor allem eins: Zeit. Für Kinder, die Schwierigkeiten im Regelschulsystem haben, ermöglichen Sozial- und Jugendamt normalerweise eine Schulbegleitung. Diese wird einem einzelnen Kind bewilligt und ist dann an dieses eine Kind rechtlich gebunden. Sie sitzt neben dem Kind und hilft kleinschrittig. Manchmal gibt es „Leerlauf“ und die Schulbegleitung sitzt neben dem Kind und wartet. Das ist nicht unüblich, da die Kinder mit der Zeit auch selbstständiger werden.

Verena Krendel ist eine ehemalige Schulbegleiterin. Sie sagt: „Als Schulbegleitung konnte ich nicht so wirksam arbeiten wie jetzt als Klassenassistenz. Konzentriert habe ich mich nur auf ein Kind. Um die Belange anderer durfte ich mich nicht kümmern, obwohl Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler es gerne gesehen hätten. Als Klassenassistenz fühle ich mich wirksam und bin ein Teil der Klasse, des Kollegiums und der Schule und habe mehr Möglichkeiten, alle Kinder zu unterstützen.“

Es gebe noch weitere negative Effekte einer Schulbegleitung, teilt Nils Dreher mit, der Koordinator der Wesendorfer Arbeitsgruppe Klassenassistenz: Andere Kinder sehen, dass ein Kind einen „Extra-Erwachsenen“ hat. Sie bekommen mit, dass jemand „anders“ ist und sind manchmal neidisch auf die Zuwendung. Statt ein Kind durch die Schulbegleitung in den Klassenverbund einzubeziehen, passiere manchmal genau das Gegenteil.

Klassenassistenzen begleiten die ganze Klasse permanent

Die Klassenassistenz korrigiert diese Fehler. „Die Kräfte im Klassenzimmer werden damit viel effektiver genutzt. Die Klassenassistenz ist nicht mehr an nur ein Kind gebunden, sondern ist zweite Ansprechpartnerin für die ganze Klasse“, so Dreher. „Sie ist mit der Lehrkraft im Unterricht und begleitet die Klasse während des gesamten Schulvormittags. Probleme können geklärt werden, ohne dass Unterricht unterbrochen werden muss.“

Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet von der TU Braunschweig. „Die aktuellen Ergebnisse weisen eine hohe Wirksamkeit nach“, so Dreher. Es gebe weniger Unterrichtsstörungen und zufriedenere Eltern und Kinder. Es sei auffällig, dass es keine Kündigungen von Seiten Klassenassistenzen und geringere Krankenstände bei Lehrkräften gab.

Schulleiter wirbt um Unterstützer der LNGS-Petition

„Mit der Klassenassistenz lässt sich Inklusion sinnvoll und verantwortlich gestalten“, fasst Schulleiter Jörg Bratz zusammen. „Gute Inklusion fördert nicht nur leistungsschwache Kinder. Sie fordert auch die Leistungsstarken. Von gelungener Inklusion profitieren alle.“ In Niedersachsen gebe es Klassen mit zwei oder mehr Schulbegleitungen gleichzeitig. Eine Klassenassistenz sei also nicht nur effektiver, sondern auch kostengünstiger.

Nun strebt er – auch als Vorsitzender der LNGS – an, dass das Land Niedersachsen „Klassenassistenzen für Grundschulen als Teil der multiprofessionellen Teams“ finanziert. Im Internet sammelt der Verein Unterschriften für eine Petition. Denn das Projekt in Wesendorf wird zum Beispiel durch die Gemeinde unterstützt, wegen des guten wissenschaftlichen Ergebnisses auch noch einmal um ein Jahr verlängert. Doch 2024 wäre dann Schluss – und die Wesendorfer müssten dann nach Gesetzeslage wieder Schulbegleitungen beantragen.

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