Die Verachtung, mit der wir auf das US-Gesundheitssystem herabschauen, mag berechtigte Gründe haben, im Moment aber können wir uns da auch eine Scheibe abschneiden. Wie wir lesen, sind in den USA fast 80 Millionen Impfdosen bereits unter die Haut gebracht, derzeit fast 2 Millionen am Tag. Weltrekord! In der EU wurden bislang 30 Millionen Dosen gespritzt. Aber natürlich muss man das bezogen auf die Bevölkerungszahlen betrachten. Da sieht es aber auch nicht besser für uns aus. USA: 15 Prozent der Bevölkerung hat schon den ersten Pikser, 8 Prozent auch Nummer 2. Deutschland: 5 Prozent mit Dosis 1, lediglich 2,6 Prozent schon mit Dosis 2. Damit dümpeln wir international irgendwo auf Platz 40 hinter Rumänien und Finnland. Da ist es nicht wirklich ein Trost, dass die deutsche Impfleistung im EU-Durchschnitt liegt und wir da derzeit immerhin gleichauf mit Italien und Frankreich stehen. Eher müssen wir uns fragen, ob wir den Ernst der Lage wirklich begriffen haben. Schließlich quälen wir uns derzeit von Lockdown zu Lockdown, bibbern vor der dritten Welle, haben hochbelastete Ärzte, Pflegekräfte und Gesundheitsämter am Limit, brachliegende Bildung in Schulen und Unis, kommen nicht wirklich voran, kriegen die Infektionszahlen nicht runter, ruinieren Wirtschaft, Handel und Staatsfinanzen und sind so übel gelaunt wie noch nie. In immer verstörenderem Gegensatz dazu steht das Niveau manch täglicher Wortmeldungen über Impfgerechtigkeit, Impfdrängler, Datenschutzbedenken und allerlei kleinkarierte Reflexe, die du dir in normalen Zeiten leisten kannst. Aber die haben wir grad nicht. Es wäre zu begreifen, dass wir vermutlich erst mit einer erfolgreichen nationalen Impf-Anstrengung zu so etwas wie „normalem Leben“ zurückkehren können. Man muss nicht in die Kriegs-Logik von US-Präsident Biden verfallen, vielleicht ist es das auch nicht. Aber eines machen sie da richtig: Impfstoff first! Und dann bitte auch impfen, so, wie sie’s tun. Auch die Überheblichkeit gegenüber den EU-abtrünnigen Briten ist grad fehl am Platze. So berauscht sind wir von der noch zu verifizierenden Vorstellung, auf der Insel müssten sie nun bitter leiden, dass uns getrübte Wahrnehmung droht. Wir drohen zum Patienten zu werden, nicht die Engländer, die offenbar verstanden haben. Habe fertig.