Als die CNN-Crew rund 100 Stunden durchmoderiert hat und es endlich ein Ergebnis gibt, sind die TV-Leute und ihr Publikum gleichermaßen angefasst vom Augenblick. Moderator Van Jones will erklären, was es in diesem Augenblick bedeutet, wenn ein US-Präsident wieder Vorbild sein kann, wenn man seinen Kindern ab sofort wieder sagen kann: Charakter ist wichtig, ein guter Mensch zu sein, ist wichtig. Da bricht dem Mann die Stimme, die Gesichtszüge entgleisen, der Profi schluchzt und weint. Nun, die Stunde ist groß, Gefühle brechen sich Bahn, übernächtigt haben wir immer etwas zu dicht am Wasser gebaut, Tränen lügen nicht, aber dürfen Journalisten weinen? Wie weit lässt man die Emotion an sich heran, ohne die Unabhängigkeit zu verlieren? Dies ist ein großes Thema, denn ohne Gefühle kann man nicht gut sein. Ein Eisblock öffnet die Menschen nicht, weil er sie nicht versteht. Während ich mir auch ein bisschen die Augen reibe, weil da ein Fussel hineingeraten sein muss, fällt mir der große Sportjournalist Hans Blickensdörfer ein. In seinem berühmten Buch über die Tour de France beschreibt er zwei Typen von Kollegen. Als der britische Sportler Tom Simpson auf dem Weg zum Tour-Sieg tot vom Rad fällt, da weint der englische Berichterstatter hemmungslos, bringt keinen Satz mehr heraus, versagt kläglich beim Schreiben. Auch der französische Reporter heult, doch er goutiert das Drama, läuft zu Hochform auf. Blickensdörfer: „Er wusste, bevor die Rotationsmaschine das Papier fraß und ausspuckte, dass er am nächsten Morgen viele Menschen zum Weinen bringen würde. Und weinend genoss er seine Fähigkeit.“ Daran muss ich denken, als Van Jones sich langsam fängt, die Tränen von der Wange wischt und in die Spur zurückfindet. Jubelbilder von den Straßen, Washington, New York, Philadelphia, feiernde Menschenmengen, zwar die meisten mit Gesichtsmaske, aber viel zu eng. Denn es ist immer noch Corona. Pandemie auf dem Höhepunkt. Die TV-Leute treten schnell die Euphoriebremse: Abstand halten!