Als ich die Wohnung betrat, hatte ich das Gefühl, eine Kühltruhe zu betreten. Sie bat mich, meine Jacke noch eine Weile anzubehalten.µ

Diese Geschichte wollte ich eigentlich im Winter erzählen, damit die Leser sich während der Lektüre in meine Lage versetzen können. Ich wollte warten, bis die ganze Stadt von Schnee bedeckt wird. Es sollte so kalt sein, dass sich jeder, der sich draußen aufhält, über seine beheizte Wohnung freut. Aber die Winter kamen und gingen, und es wurde nicht mehr richtig kalt. Als ich vor einigen Tagen auf der Broitzemer Straße fuhr, fiel mir die Geschichte wieder ein, die sich hier in einem, vor zwanzig Jahren, abgerissenen Wohnblock abgespielt hat und die ich jetzt trotz des Hochsommers erzählen werde.

Damals war ich noch Student. Während einer Vorlesung in Sozialwissenschaft betrat eine Studentin den Hörsaal. Ich war wie erstarrt, weil sie von blendender Schönheit, stilbewusst gekleidet und elegant war. Ich hatte sie vorher noch nie auf dem Campus gesehen. Während sie einen Platz suchte, versuchte ich vergeblich mit ihr Blickkontakt aufzunehmen. Aber sie ging an mir vorbei und setzte sich in einer Reihe hinter mich. Ich konnte mich fortan nicht mehr konzentrieren, ich sah den Professor zwar reden, aber was er erzählte, erreichte mich nicht. Ich war nur mit einer Frage beschäftigt: „Wie kann ich mit ihr Kontakt aufnehmen?“ Ich schaute während der Doppelstunde nicht einmal nach hinten. Als die Vorlesung zu Ende ging, stand ich auf und schaute endlich hinter mich. Die Studentin war weg. Sie hatte den Saal über die hintere Tür verlassen. Meine Enttäuschung war groß. Eine Woche später, um die gleiche Uhrzeit, ging die Tür auf. Die Studentin marschierte wieder in den Hörsaal. Ich zögerte nicht und gab ihr ein Zeichen, dass der Platz neben mir frei war. Sie nickte, kam zu mir und setzte sich. Ich stellte mich vor und gab ihr die Hand. Sie sagte, dass sie Imelda heiße. Sie studierte auf Lehramt, sodass Sozialwissenschaft, die einzige Vorlesung war, die wir gemeinsam hörten. Wir tauschten uns kurz vor der Vorlesung aus, und danach war ich sehr konzentriert auf das, was der Professor erzählte. Eines Tages fiel die Stunde, die sie nach Sozialwissenschaft hatte, aus. Es war 17 Uhr. Ich schlug ihr vor, mit mir in ein Café im Univiertel zu gehen. Sie nahm meine Einladung an. Zuerst saßen wir uns gegenüber. Aber je länger wir uns unterhielten, desto bewusster wurde mir, dass dieser Abend lang werden konnte. Während der Unterhaltung standen unsere Stühle irgendwann nebeneinander und der Raum zwischen uns wurde enger. Später berührten sich unsere Hände unabsichtlich, und als sie einen meiner Finger festhielt, war mir klar, dass ein neues Kapitel meines Lebens begonnen hatte.