Braunschweig. Wie geht Traumabewältigung? Vor dem Leserforum „Talk im Medienhaus“ am 18. Januar 2024 sprechen wir mit Professor Wolf-Peter Sollmann.

Wenn es am Donnerstag, 18. Januar, „Talk im Medienhaus“ heißt, steht ein Thema für unsere Leserinnen und Leser auf dem Programm, das viele gerade als besonders drängend empfinden: „Wie retten wir unsere seelische Gesundheit? – Traumabewältigung nach Kriegserlebnissen,Vertreibung und häuslicher Gewalt“.

Die genannten Anlässe seien nur einige Beispiele, es gebe wesentlich mehr, auch im Alltag und im privaten Umfeld, sagt der Neurochirurg und Präventions-Experte Professor Wolf-Peter Sollmann im Interview mit unserer Zeitung. Sollmann ist amtierender Präsident des Rotary-Clubs (RC) Braunschweig-Hanse, der gemeinsam mit dem RC Salzgitter-Wolfenbüttel-Vorharz den Anstoß für dieses Leserforum gemeinsam mit unserer Zeitung gab.

Dabei ist neben Gehirnforscher Professor Martin Korte mit Marius Wonschik auch ein Psychologe und Psychotherapeut des Bundeswehrkrankenhauses Hamburg. Ebenso dabei: Bianca Wassermann von der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe des CJD Braunschweig/Wolfsburg, die Leiterin des AWO-Frauenhauses Braunschweig, Astrid Sutor, sowie der Arzt und Politiker Dr. Christos Pantazis, stellvertretender gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion in Berlin.

„Für uns als Redaktion ein drängendes Thema, bei dem wir für unsere Leserinnen und Leser Informationen liefern und mit ihnen ins Gespräch kommen wollen“, sagt Chefredakteurin Dr. Kerstin Loehr.

Im Interview spricht Wolf-Peter Sollmann über Ursachen und Möglichkeiten der Hilfe, beschreibt aber auch ein Defizit an professioneller Hilfe und einen Mangel an Therapieplätzen. „Unsere Veranstaltung könnte ein Auftakt sein, hier Verbesserungen in unserer Region anzumahnen und vielleicht sogar anzustoßen“, sagt der 66-Jährige. Er stellt fest: „Was am Beginn einer schweren seelischen Verletzung versäumt wurde, das fällt im zeitlichen Abstand sehr schwer, aufgearbeitet zu werden.“

Seelische Störungen betreffen jeden Fünften in unserer Bevölkerung – und jede Familie kennt Betroffene. Das private und berufliche Umfeld leidet mit. Mehr als jeder und jede Zweite hat im Leben mindestens ein schwerer traumatisierendes Erlebnis gehabt – und mit dem Lebensalter nimmt dies zu.

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„Neben schicksalhaften, von innen kommenden seelischen Erkrankungen machen körperliche verbunden mit seelischen Traumatisierungen bis dahin gesunder Menschen besonders betroffen“, sagt Professor Wolf-Peter Sollmann (66), bis zu seiner Pensionierung Chefarzt der Neurochirurgie mit Intensivstation im Städtischen Klinikum Braunschweig mit mehreren 10.000 Operationen an Gehirn und Rückenmark – und ebenso vielen Gesprächen mit Patienten. Zudem ein anerkannter Spezialist für Projekte der Prävention und für Resilienz, zum Beispiel mit Sport. „Ich schöpfe meine Kraft aus drei Dingen: Sport, Natur, Musik“, sagt er.

Ursache für seelische Verletzungen: Schreckliche Erlebnisse, die Todesangst und unerträglichen körperlichen oder seelischen Schmerz hervorrufen, den man im Leben nicht vergisst. Weitere Ursachen gibt es genug: Krieg, Terror, Flucht, schwere Unfälle oder Erkrankungen, körperliche oder seelische Gewalt durch Fremde – und noch häufiger im häuslichen Umfeld. Leben wir in einer „bedrückten Gesellschaft“? Wir sprechen mit Wolf-Peter Sollmann.

Spricht über seelische Gesundheit: Professor Wolf-Peter Sollmann.
Spricht über seelische Gesundheit: Professor Wolf-Peter Sollmann. © FMN | Henning Noske

Was ist ein seelisches Trauma?

Es ist eine psychische, lang andauernde Veränderung, die durch eine schlimme äußere Einwirkung ausgelöst wird – das kann ein Erlebnis sein, ein Unfall, etwas, das mit Schmerzen oder Erniedrigung verbunden ist, auch mit Angst. Man wird es schwer los, wenn es nicht frühzeitig behandelt wird.

Man denkt oft an Unfälle, Überfälle, Handgreiflichkeiten, aber gibt es nicht auch Dinge im Alltag, die zu einem solchen Trauma führen können?

Man kann sicherlich sagen, dass psychischer Druck bei Menschen auch Mikrotraumen auslösen kann, das alltägliche Mobbing in der Schule oder im Beruf kann dafür ein Beispiel sein. Aber in der Hauptsache sprechen wir von Dingen, die unvorbereitete, bis dahin gesunde Menschen betroffen haben, die dadurch vollkommen aus der Bahn geworfen werden.

Traumen, groß oder klein – kann die Ursache auch eine stark belastende familiäre, häusliche Situation sein?

Auf jeden Fall. Wir müssen auch sehen, dass die Häufigkeit im häuslichen und familiären Bereich hoch ist, so dass dort sehr viel mehr Traumen passieren als beispielsweise durch Kriege oder Fluchterfahrungen ausgelöst werden.

Wie wirkt sich denn so ein Trauma, eine seelische Verletzung aus, wie sieht und merkt man das?

Der Mensch ist in dieser Situation stark geschwächt, er hat Angst, ist hoffnungslos, maßlos unglücklich, es kommt zu körperlichen Empfindungen wie Schweißausbrüchen, Herzklopfen und mehr. Es handelt sich um ausgeprägte seelische und körperliche Reaktionen.

Sind sie behandelbar?

Wenn man Glück hat, ja. Es hängt auch davon ab, um was für eine Primärpersönlichkeit es sich handelt. Es gibt Menschen, die gegenüber Stress und Traumen sehr tolerant sind. Aber auch solche, die es nicht so gut aushalten. Man sieht es jedoch nicht jedem Menschen an, wie ein Trauma verarbeitet wird. Wenn jemand still dasitzt und sich nichts anmerken lässt, kann mindestens eine genauso schwere Belastung vorliegen wie bei jemandem, der sich lautstark äußert.

Gibt es Menschen mit Disposition, besser mit solchen seelischen Verletzungen klarzukommen?

Ja, das gibt es. Routine im Beruf, Lebenserfahrung, spezielle Kenntnisse und Techniken, wie sie beispielsweise ein Arzt im Notdienst beherrschen muss, können sich positiv auswirken. Das heißt jedoch nicht, dass Ereignisse ausgeschlossen werden können, die stark berühren und auch verletzen. Und Disposition, ja, es gibt Menschen, die leichter verletzt werden können. Mitunter können hier durch vermeintlich „leichtere“ Ereignisse unterhalb der Schwelle etwa von körperlichen Angriffen auch Traumen ausgelöst werden.

Ablenkung, Training, Gesellschaft, gute soziale Beziehungen, positive Einstellungen – kann das alles helfen?

Das trifft zu. Auch die Erziehung und Kindheitserfahrungen spielen übrigens eine große Rolle. Aber wir dürfen nicht vergessen: Es handelt sich um Verletzungen, auch schwererer Art, bei denen Hilfe benötigt wird. Hilfe von geschulten Menschen. Es ist wichtig, dass ein Betroffener frühzeitig an die Hand genommen wird und professionelle Hilfe erhält. Und es ist auch nicht ausgeschlossen, dass dies am Anfang auch ein Mensch mit Lebenserfahrung und mit einem großen Herzen sein kann.

Oft ist von Resilienz die Rede, mitunter auch ein Modewort, aber ein wichtiger Begriff. Was ist das überhaupt, und kann es hier eine Rolle spielen?

Es ist die Widerstandsfähigkeit gegen Stress, äußere Einflüsse, Belastungen – und das ist durchaus trainierbar. Manager, Lehrer, Intensivmediziner, Männer wie Frauen, – sie alle müssen Resilienz haben oder entwickeln. Da muss es Ausgleich geben zu den Belastungen im Beruf.

Was ist hilfreich, um Resilienz zu entwickeln und zu trainieren?

Körperliche Gesundheit, ausreichend Schlaf, gute Partnerschaft, soziale Verbindungen – und, ganz wichtig, wenn es drauf ankommt: Professionelle Hilfe.

Das ist ein wichtiger Übergang. Wann konkret helfen alle Disposition, Resilienz und schöne Worte nicht mehr, wann ist es so weit, wann brauche ich konkrete, ärztliche, medizinische Hilfe? Und wie erkennt man es?

Oft ist es konkret sichtbar, etwa bei einem schweren Verkehrsunfall. Man sieht etwas, ist dabei, kann handeln. Doch wenn es sich um Menschen handelt, die übers Mittelmeer geflüchtet sind, die unterwegs schlimmste Dinge erlebt haben, dann ist der Zugang nicht so leicht. Gleiches gilt für Menschen, die beispielsweise vor dem Krieg aus der Ukraine geflüchtet sind und um ihre Angehörigen bangen.

Hier ist das Problem: Was am Anfang, am Beginn der schweren seelischen Verletzungen unterlassen wurde oder gar nicht stattfinden konnte, das fällt im zeitlichen Abstand sehr schwer, aufgearbeitet zu werden. Das Gehirn hatte schon eine gewisse Zeit mit dem Trauma zu tun. Was wir am meisten fürchten, das ist, dass sich durch die emotionale Verarbeitung des Traumas im limbischen System des Gehirns im sogenannten Mandelkern Erfahrungen und Impulse festsetzen können, die unserem kontrollierten Bewusstsein entzogen sind. Diese emotionalen Störungen, wenn sie erst dort abgespeichert sind, können dann immer wieder durch äußere Anlässe abgerufen werden und aufbrechen. Dies kann Menschen innerhalb weniger Sekunden in einen Angstzustand mit körperlichen Reaktionen versetzen. Ich beschreibe das so: Da sitzt ein Heckenschütze im Mandelkern. Er versteckt sich dort, kann für den Rest des Lebens Schaden anrichten. Den gilt es zu beseitigen.

Wir haben gemeinsam Veranlassung gesehen, das Thema in einem Leserforum „Talk im Medienhaus“ aufzugreifen. Warum, was macht die aktuelle Brisanz des Themas aus?

Ich nenne Beispiele. Rotary-Weltpräsident Gordon R. McInally hat einen Bruder, der aufgrund einer Depression Suizid beging. Er nahm dies zum Anlass, Projekte anzuregen, die sich mit seelischen Traumen befassen. Auch mich hat das Thema durch eine Gewalterfahrung in der Kindheit ein Leben lang begleitet. Solche Traumen sind sehr viel häufiger, als es sich die meisten Menschen vorstellen können. Auch Corona-Folgen, schlimme Bilder und Szenen aus der Ukraine, aus Israel und Gaza spielen eine große Rolle, direkt und indirekt, als unmittelbar Betroffene, aber auch als betroffene Zuschauer.

Leben wir in zunehmend bedrückten Gesellschaften?

Ich hoffe und glaube nicht, dass es die gesamte Gesellschaft betrifft. Aber doch, ja, viele sind bedrückt und können an der Lebensfreude und am Optimismus der anderen nicht so teilhaben. Ich fürchte, dass ihr Anteil gerade steigt.

Wie steht es um die Kapazitäten professioneller medizinischer Hilfe?

Da wir rund 20 Prozent Menschen mit seelischen Störungen haben – die eine Hälfte ist mit Depressionen betroffen, die andere mit Angststörungen – benötigen diese Menschen oft über lange Zeit Therapie, was Ressourcen bindet. Für relativ wenige freie Therapieplätze haben wir viele Patienten, die schnell gesehen und behandelt werden müssen. Das ist das Problem. Da muss etwas passieren. Wir dürfen nicht wegschauen. Wir müssen das Problem in seinem ganzen Ausmaß und in seiner Alltäglichkeit erkennen. Es geht durch die gesamte Gesellschaft, betrifft nicht nur bestimmte Schichten. Wenn wir es erkennen, können wir auch Menschen davor schützen, in diese Situation zu kommen. Wenn wir es erkennen, können wir auch besser helfen, vielleicht als Engel, der gerade geschickt wurde, um etwas Gutes zu tun.

Service: Informationen und Anmeldung

Die Veranstaltung „Talk im Medienhaus: Wie retten wir unsere seelische Gesundheit?“ findet am Donnerstag, 18. Januar 2024, ab 18.30 Uhr im Forum Medienhaus, Hintern Brüdern 23 in Braunschweig, statt.

Die Eintrittskarten (5 Euro Abonnenten und 10 Euro für Nicht-Abonnenten) können in den Service-Centern unserer Zeitung, telefonisch unter (0531)16606 und unter www.konzertkasse.de erworben werden.

Zum Inhalt: Krieg, Gewalt, Flucht, Krankheit, häuslicher Unfriede – Im „Talk im Medienhaus“ nehmen sich die Rotary-Clubs RC Braunschweig-Hanse und RC Salzgitter-Wolfenbüttel-Vorharz gemeinsam mit der Braunschweiger Zeitung eines drängenden Themas an: verwundete Seelen. Namhafte Expertinnen und Experten tragen vor und diskutieren Hilfen und Lösungswege. Unsere Leserinnen und Leser sind herzlich eingeladen, auch zum anschließenden Austausch bei Imbiss und Getränken.

Dabei sind:

Professor Martin Korte, Institut für Neurobiologie der Technischen Universität Braunschweig

Marius Wonschik, Psychologe und Psychotherapeut, Bundeswehrkrankenhaus Hamburg

Bianca Wassermann, Kinder-, Jugend- und Familienhilfe CJD Braunschweig/Wolfsburg

Astrid Sutor, Leiterin Frauenhaus Braunschweig der Awo

Dr. Christos Pantazis, stellvertretender gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion

Professor Wolf-Peter Sollmann, Neurochirurg, vormals Städtisches Klinikum Braunschweig

Henning Noske, Moderation