Braunschweig. Verletzte Beamte, kein Respekt, erschütternde Szenen – Wie in der Neuen Straße eine Weihnachtsfeier eskalierte.

Als am späten Samstagabend die Lage im „Movie“ in der Neuen Straße eskaliert, geraten vier Streifenpolizisten des Polizeikommissariats Mitte, darunter eine 22-jährige Beamtin, in Unterzahl und bedrohlich in die Defensive. Eine Weihnachtsfeier, sechs bis zehn Personen aus dem Bereich Helmstedt, die alle im gleichen Unternehmen arbeiten, ist außer Kontrolle geraten.

„Es wurde sehr schnell Widerstand geleistet. Gegen alles“, sagt hinterher Ingo Patzke, Leiter des Einsatz- und Streifendienstes. Der 57-Jährige ist verantwortlich für die Polizeistreifen in der Braunschweiger Innenstadt. Auch in Jahrzehnten Polizeiarbeit, das muss er einräumen, hat man solche Szenen nicht oft erlebt.

Die feiernde Gruppe, es wurde schon einiges getrunken, ist in Streit mit einer anderen Gruppe geraten. Der Anlass ist noch nicht klar, es wird ermittelt, aber mitunter sind die Anlässe nichtig, überlagert von sich hochschaukelnden Aggressionen. Schuld ist immer der andere, und im Zweifelsfall kriegt es die Polizei ab. Von der Wirtin alarmiert, treffen zwei Streifenwagenbesatzungen ein. Ein randalierender Gast steht da wohl schon auf dem Tisch.

Leiter des Einsatz- und Streifendienstes: Polizeibeamte werden mitunter nicht mehr als Ordnungshüter wahrgenommen, die im Sinne der Allgemeinheit ihren Dienst tun

Nach den Regeln für solche Einsätze ist die Sache klar: räumliche Trennung, die Aggressivsten rausnehmen, Ruhe schaffen. Draußen die Personalien aufnehmen, dann Platzverweis. Und Ruhe und Ordnung ist. „So wäre die Idee gewesen, wenn die Leute mitgespielt hätten“, sagt Patzke nüchtern. Draußen gibt es dann aber „sehr schnell Widerstand gegen alles“.

Was genau passiert, wird untersucht, aber es ist schon so, dass die junge Polizistin draußen von einem Rasenden an Gurt und Weste gepackt wird, hochgehoben und übers Pflaster der Neuen Straße getragen wird. Der Angreifer stolpert indes über einen bereits am Boden liegenden Beamten, stürzt auf die Beamtin, die er im Griff hat, prügelt auf sie ein und greift ihr an den Hals. Zu diesem Zeitpunkt ist von drei Kampfplätzen vorm „Movie“ die Rede. Einer der Beamten fordert über Funk „Dringende Unterstützung!“ an. Da ist ein weiterer Kollege bereits schwer verletzt. Er hatte von hinten einen Tritt aufs Knie bekommen.

Als die Verstärkungen eintreffen, kann die Lage bewältigt werden. Nunmehr würden Anzeigen wegen Landfriedensbruchs, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und gefährlicher Körperverletzung gefertigt, meldet später im amtlichen Deutsch der Polizeibericht.

„Es belastet sehr, wenn man so angegangen wird. Wir sind auch nur Menschen.“

Die Angreifer erleben die Nacht nach der außer Kontrolle geratenen Weihnachtsfeier im Polizeigewahrsam, ihnen wird Blut entnommen, um den Alkoholpegel zu ermitteln. Und in der Polizeiwache Münzstraße wird ein verstörender Einsatz aufgearbeitet.

Vier Beamte sind verletzt. „Die Stimmung hinterher ist bedrückt, aber jeder ist für den anderen da. Polizei ist auch Familie“, sagt Patzke. „Es belastet sehr, wenn man so angegangen wird.“ Das macht etwas mit dir, sagt er, das schüttelt man nicht weg. Das ist kein Spaß. „Wir sind auch nur Menschen.“

Stimmt es, dass Beamte jetzt immer häufiger im Einsatz angegriffen werden? Hier muss man sich vor allzu schnellen Schlüssen hüten. Es sind stets spektakuläre, oft auch emotionale Fälle und Ereignisse, die Nachrichten und Schlagzeilen produzieren. Inwieweit in jüngerer Zeit Gewalthandlungen gegenüber der Polizei tatsächlich zugenommen haben, was vermutet wird, das sei in der Fachdiskussion umstritten, schreibt Professor Thomas Görgen von der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster in einem Beitrag für die Bundeszentrale für Politische Bildung.

Nicht bei Demos oder Sportveranstaltungen ist die Gefahr für die Beamten am größten, sondern bei Festnahmen und Schlägereien

Übrigens ereigneten sich demnach 7,5 Prozent solcher Gewaltvorkommnisse gegenüber Polizeibeamten bei Demonstrationen, 7,8 Prozent bei Sport- oder Großveranstaltungen. Dafür aber 17 Prozent bei Überprüfungen und Festnahmen von Verdächtigen, jeweils 13 Prozent bei Schlägereien und in Fällen häuslicher Gewalt, 11 Prozent beim Einschreiten bei Ordnungsstörungen, schließlich 9 Prozent im Zusammenhang mit Verkehrsunfällen und Verkehrsüberwachung.

Nüchterne Fakten, die an der Betroffenheit im Einzelfall kaum etwas ändern. Ebenfalls umstritten, aber nicht von der Hand zu weisen: Es könnte in einer freiheitlichen Gesellschaft, die den kritischen Diskurs pflegt, zunehmend am Respekt vor Autoritäten fehlen. Viele Beamte haben hier eine eindeutige Meinung. „Wir erleben gerade allgemein weniger Respekt vor der Polizei und Polizeibeamten“, sagt der Leiter des Einsatz- und Streifendienstes in der Braunschweiger Innenstadt im Gespräch.

In Verbindung mit Alkoholkonsum und mit nicht von der Hand zu weisenden Solidarisierungseffekten gegen Polizeibeamte, so Patzke, könne das schon eine gefährliche Mischung ergeben, wie am Samstagabend gesehen: „Enthemmt, Polizisten werden mitunter nicht mehr als Ordnungshüter wahrgenommen, die im Sinne der Allgemeinheit ihren Dienst tun.“