Braunschweig. Der frühere Museumsdirektor Gerd Spies hat die Zeichnungen von Johann Jacob Collier als Buch herausgebracht. Wir blättern darin.

Manchmal wünscht man sich, man könnte in vergangene Zeiten zurückreisen. Gerade in Braunschweig, wo so unfassbar viel zerstört und untergegangen ist. Nicht nur im Bombenkrieg, sondern auch immer wieder in Wellen von Modernisierungen und Aufbrüchen durch die Jahrhunderte.

Gerd Spies in seinem Element: Der frühere Direktor des Städtischen Museums konnte nach Jahrzehnten einen lang gehegten Plan realisieren.
Gerd Spies in seinem Element: Der frühere Direktor des Städtischen Museums konnte nach Jahrzehnten einen lang gehegten Plan realisieren. © FMN | Henning Noske

Wenn es dann einmal möglich ist, ganz neue, zum Teil sogar unbekannte, in jedem Fall aber weitgehend längst vergangene Schichten von Stadtbild und Stadtgeschichte zu entdecken, dann ist das schon ein ganz besonderes Erlebnis.

Gerd Spies trug über die Jahre mehr als 130 dieser Zeichnungen zusammen

Ein solches hatte Gerd Spies (86), von 1965 bis 2002 Direktor des Städtischen Museums, als er schon in den 1980-er Jahren auf einen weitgehend unbeachteten Zeichner aus dem 18. Jahrhundert stieß, dessen über etliche Fundorte verstreute schlichte Skizzen ihn aufhorchen ließen, fesselten – und nicht mehr losließen.

Ein Entenpaar auf einem längst unterirdisch verschwundenen Okerarm: „Der Stoben am Engelhardssteg“, Nähe Hagenmarkt. 
Ein Entenpaar auf einem längst unterirdisch verschwundenen Okerarm: „Der Stoben am Engelhardssteg“, Nähe Hagenmarkt.  © Braunschweig | Repro / Noske

Aber noch war die Zeit nicht gekommen beziehungsweise hatte man stets Wichtigeres tun. Doch Spies trug über die Jahre mehr als 130 dieser Zeichnungen zusammen, legte einen Zettelkasten mit Notizen an und fing auch nach seiner Pensionierung immer mehr Feuer in dieser Sache.

Über diesen Johann Jacob Collier weiß man nicht viel. Er war ein Kurier in der Stadt

„Ich würde diesen Mann gern einmal treffen in irgendeinem Winkel dieser Stadt“, sagt er und spricht fast ehrfürchtig über „einen Menschen, dem ich sehr lange nachgegangen bin“. Dabei weiß man über diesen Johann Jacob Collier, von dem hier die Rede ist, nicht wirklich viel, fast nichts.

Zwischen 1782 und 1796 spricht er laut Datierungen durch seine Zeichnungen zu uns. 1808 taucht er in einem Kirchenbuch auf, es ist das Jahr, in dem sein Sohn getauft, aber auch die sechs Jahre alte Tochter begraben wird. Da ist er offenbar keine 50 Jahre alt. Seitdem verliert sich seine Spur.

Ein neuer Blick auf die in den 1950-er Jahren vom Verlag der Braunschweiger Zeitung abgerissene Maria-Magdalenen-Kapelle.
Ein neuer Blick auf die in den 1950-er Jahren vom Verlag der Braunschweiger Zeitung abgerissene Maria-Magdalenen-Kapelle. © FMN | Repro / Noske

Was man aber weiß: Collier war Kurier. In der florierenden Handels- und Messestadt Braunschweig muss er mit Waren, Schriftstücken oder Nachrichten in der Stadt unterwegs gewesen sein, kreuz und quer. „Er kannte die Stadt seiner Zeit in- und auswendig“, sagt Spies. Es war jene Stadt, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts wieder Residenzstadt geworden war mit den entsprechend anstehenden baulichen Veränderungen.

Nicht die Sehenswürdigkeiten und Prachtbauten nahm er ins Visier, sondern das ganz „Normale“

Collier zeichnete unterwegs, wo er ging und stand, vor allem, wenn Gebäude abgerissen oder stark verändert werden sollten. Vermutlich der Grund, warum er überwiegend gerade nicht wie andere die Sehenswürdigkeiten und Prachtbauten der Stadt in den Blick nahm, sondern ganz „Normales“ und vor allem Fachwerkbauten, Wirtshäuser, Tore, Türme, Stoben, Erker, Knaggen, Hausinschriften und Fassadenschmuck, all das, was einen heute in ein unbekanntes altes Braunschweig abtauchen lassen kann.

„Der Radeklint“ aus dem Jahr 1793 ist eine der wenigen farbigen Zeichnungen Colliers. Die prachtvolle Häuserkulisse im Norden der Petrikirche, am Radeklint, war auch ein beliebtes Postkartenmotiv. 
„Der Radeklint“ aus dem Jahr 1793 ist eine der wenigen farbigen Zeichnungen Colliers. Die prachtvolle Häuserkulisse im Norden der Petrikirche, am Radeklint, war auch ein beliebtes Postkartenmotiv.  © FMN | Repro / Noske

Spies kam nie los von dem Stoff, gezeichnet im mitunter naiven Stil, aber detailversessen, auf kleinen, empfindlichen Blättern. Jetzt hat er – ermuntert vom Leiter des Braunschweiger Stadtarchivs, Henning Steinführer, und unterstützt vom Städtischen Museum, alle 133 Zeichnungen, versehen mit detaillierten Angaben zu Ort, Zeit und bekannten Hintergründen, als Buch im Rahmen der Braunschweiger Werkstücke herausgebracht. Entstanden ist ein Reisebuch in die Braunschweiger Vergangenheit, Streifzüge auf den Spuren Colliers, die fesseln und immer wieder für neue Entdeckungen bürgen.

Unbekanntes Braunschweig. Stadtansichten aus dem 18. Jahrhundert“ ist im Wallstein Verlag erschienen und kostet 38 Euro.