Braunschweig. Jahrestag der Pogromnacht vor 85 Jahren: Die Botschaft zum Tag ist klar, aber werden die Warnungen der Geschichte auch gehört?

9. November – es ist ein Ritual, das in jedem Jahr bewegt, das nötig ist und gerade in diesem Jahr. Gedenken an die Pogromnacht vor 85 Jahren, Kränze in der Dämmerung, Gebete, Innehalten an der Gedenktafel der ehemaligen Braunschweiger Synagoge in der Alten Knochenhauerstraße. Später dann in diesem Jahr noch ein Empfang der Stadt im Altstadtrathaus, und die Botschaft dieses Tages lautet, mehrfach wiederholt: „Nie wieder! – das ist jetzt.“

So leicht das beschworen ist und oft wiederholt wird, es steckt aber doch auch ein Kloß im Hals bei der Erkenntnis, das es notwendig ist zu sagen: Es ist jetzt. Das Erschrecken über diesen Umstand, der unerträglich ist, ist Renate Wagner-Redding anzusehen. Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde beschreibt den 9. November 1938, als in Deutschland die Synagogen gestürmt wurden und brannten, als brutalen Wendepunkt, nach dem in Deutschland kein jüdisches Leben mehr möglich gewesen sei.

Vor einem Foto der alten Synagoge: Renate Wagner-Redding, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Braunschweig.
Vor einem Foto der alten Synagoge: Renate Wagner-Redding, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Braunschweig. © FMN | Bernward Comes

Auch die ursprüngliche Braunschweiger Synagoge in der Alten Knochenhauerstraße betraf dies. Zögerlich seien Juden aber zurückgekehrt, auch nach Braunschweig, ein Wagnis. „Heute stehen wir hier, 85 Jahre danach, und sind verunsichert über den zunehmenden Antisemitismus, ja, sogar Hass auf Juden auf deutschen Straßen seit dem 7. Oktober“, sagt sie. Das war der Tag. als Hamas-Terroristen Israel überfielen und Menschen ermordeten, weil sie Juden sind.

Renate Wagner-Redding: „Wenn es eine Lehre aus der Geschichte des 9. November 1938 gibt, dann die: Hass spaltet, Hass hetzt – und Hass tötet.“

Wenn Jude wieder zum Schimpfwort geworden sei, „dann ist das unerträglich“, sagt Wagner-Redding. Müssen Juden in Deutschland wieder Angst haben? Die Parole „Nie wieder!“, sie gelte jetzt, hier und heute. Und: „Wenn es eine Lehre aus der Geschichte des 9. November 1938 gibt, dann die: Hass spaltet, Hass hetzt – und Hass tötet.“

Braunschweigs Oberbürgermeister Thorsten Kornblum beschreibt, wie die aktuellen Ereignisse mit antisemitisch motivierten Straftaten in Deutschland „schlimme Erinnerungen an den Beginn der Judenverfolgung der Nationalsozialisten hervorrufen“. Gewalt und Terror gegen Jüdinnen und Juden seien durch nichts zu rechtfertigen.

Kornblum: „Antisemitismus, Hass und Terror sind ein unerträglicher Zustand, dem wir uns in Braunschweig gemeinsam entschlossen entgegenstellen. Wir lassen uns unsere Menschlichkeit, unser Mitgefühl und unsere Entschlossenheit, für das Wohlergehen Aller in unserer Gesellschaft einzustehen, in unserer Gesellschaft nicht nehmen.“

Szenen aus „Wir werden diese Nacht nicht sterben“: Autor und Regisseur Guido Wertheimer (r.), Schauspieler Robert Prinzler.
Szenen aus „Wir werden diese Nacht nicht sterben“: Autor und Regisseur Guido Wertheimer (r.), Schauspieler Robert Prinzler. © FMN | Bernward Comes

Gut geredet, schöne Worte, aber wie tief gehen sie, welche Konsequenzen haben sie? Akteure des Braunschweiger Staatstheaters tragen in der Dornse des Altstadtrathauses Texte vor, die Szenen aus der Pogromnacht vor 85 Jahren mit Szenen von heute kombinieren, Tagebuchaufzeichnungen, Erinnerungen, aktuelle Notizen von beklemmender Brisanz. Von „Nie wieder!“, man muss es sagen, ist man doch ersichtlich entfernt, wenn auf deutschen Straßen Juden der Tod gewünscht werden kann. Das Stück „Wir werden diese Nacht nicht sterben“ wird am 24. November im Staatstheater uraufgeführt.

Per Video wird die Botschaft des Rabbiners Uri Themal aus Braunschweigs Partnerstadt Kiryat Tivon im Altstadtrathaus zugeschaltet. In geschliffenem, akzentfreiem Deutsch erinnert der Überlebende der Shoah daran, dass es der Terror-Überfall der Hamas am 7. Oktober war, der mit seinen Massakern Israel in einen Existenzkampf geworfen habe. Und doch spricht er sich gegen Vergleiche mit der Shoah aus, bezeichnet solche Vergleiche sogar als gefährlich.

Rabbiner aus Kiryat Tivon: „Wir wollten dem ,Nie wieder!’ vertrauen. Stattdessen leben wir im ,Immer noch’“

Im Hebräischen steht Shoah für das größte, eben unvergleichliche Unheil, das Juden widerfahren kann. Deutsche verübten es mit bestialischer Konsequenz und Präzision, indem sie die Vernichtung von Menschen mit industrieller Effizienz und Taktung millionenfach betrieben. Das sei mit nichts zu vergleichen.

Mit Bitterkeit stellt der Rabbiner fest: Man habe gehofft, dass es danach keinen Antisemitismus mehr geben könne. Und irrte sich. Müsse mit Schrecken schrille Ausbrüche von Hass sehen. Uri Themal: „Wir wollten dem ,Nie wieder!’ vertrauen. Stattdessen leben wir im ,Immer noch’“.

Im Grunde genommen aber, das muss er selbst einräumen, handelt es sich doch nur um immer neue Warnungen der Geschichte, wozu Menschen eben fähig sind und immer noch. Es klingt fast schon resigniert, aber das soll und darf es nicht, wenn er erklärt: „Wir müssen dieses historische Desaster erkennen und daraus lernen.“

Veranstaltungen am 9. November, die nicht in jedem Fall geeignet sind, trübe Gedanken zu vertreiben. Immerhin, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde und Ehrenbürgerin dieser Stadt, Renate Wagner-Redding, wendet sich mit brüchiger Stimme an die Menschen, die gerade heute zum Gedenken und Erinnern gekommen sind: „Danke, dass Sie an diesem Tag unsere Gemeinschaft nicht allein gelassen haben.“