Braunschweig. Bei Graff liest Ann Claire Richter aus ihrem Braunschweich-Buch – ein Heimatabend.

Nein, so eine Lesung gab’s auch noch nicht. Lesung? Nun, eher ein Heimatabend in der überfüllten Buchhandlung, Fan-Treffen zwischen Buchrücken mit mehr als 200 Leuten, Stimmungsaufheller in finstern Zaaten. Aber soviel gleich mal vorweg: Das klaare Ao hiesigen Idioms ist praktisch nicht schreibbar beziehungsweise unsprechbar, falls du nicht mit Okerwasser getauft dergleichen Klatern in bestimmten hiesigen Straßenzügen noch lerntest.

Lese-Begleitung mal anders: Jazzkantinen-Musiker Christian Eitner (von links), Andy Lindner und Louie („Silent Radio“).
Lese-Begleitung mal anders: Jazzkantinen-Musiker Christian Eitner (von links), Andy Lindner und Louie („Silent Radio“). © regios24 | Stefan Lohmann

Um es mit (Harfen-)Agenes zu sagen, die in dieser magischen braunschweigischen Büchernacht quasi wie der gute Geist über allem schwebt: „Was nützt mich Geld und Raachtum, wenn ich nicht fröhlich bin! Das Geld kann ich verlieren, nich aber maanen Sinn.“ Dies ist von philosophischer Tiefe, weil es so wunderschön traurig ist, dass du zwischen Lachen und Waanen immer nich so richtig wissen kannst, was grad mit dir ist. Und so kullern auch am Dienstagabend bei Graff im 1. Obergeschoss einige Tränchen, und noch beim Rausgehen summen wir nach der Melodie von „Sweet home Alabama“: Sweet home … Gliesmarode, Sweet home … Schuntersiedlung … Hondelage … Melverode … Das kann noch eine Weile so gehen, nur vier Silben muss es haben.

Ann Claire Richter, Lokal- und Kultur-Redakteurin dieser Zeitung, hat eine längst überfällige ölperische Enzyklopädie geschrieben

Das ist im Grunde genommen schon das ganze Prinzip, und so funktioniert auch diese Lesung. Wohlig-schaurig-distanzierte Heimatverbundenheit, Nachhilfestunden in Lokalgeschichte, richtig gute Musik und Anspielungen, dazu famose Kunstfiguren wie etwa der Häuptling Schwarzer Berg und Old Schunterhand. Na, sagen wir es so: Autorin Ann Claire Richter, Lokal- und Kultur-Redakteurin dieser Zeitung, hat eine längst überfällige ölperische Enzyklopädie geschrieben, ein Klater-Kompendium von „A“ wie Aantracht bis „Z“ wie Zonenrandgebiet.

Eine opulent bebilderte und detailliert erzählte Fibel über 17 legendäre Heimatmusikdichtungen von „Braunschweich, Braunschweich!“ (2003) bis „Der Diamentenherzog und das brennende Schloss (2022/23). Dazwischen legendäre Straßenfeger wie „Mensch, Agnes!“, „Ölper Zwölf Pöints“ (mehrere Staffeln), „Unser Eintracht“ oder „Spiel mir das Lied vom Löwen“. Nicht zu vergessen die heimeligen Christmetten im Spiegelzelt, ohne die es für viele an der Oker kein Weihnachten mehr ist. Summasummarum: eine Hommage à la Anna an das kongeniale Duo Christian Eitner und Peter Schanz, die sich suchten und fanden, um aus den Welten von Jazzkantine und Staatstheater ein Ölperium zu schmieden. Mehr als 350.000 Besucher in 20 Jahren können sich nicht irren.

Magische Büchernacht: Am Ende applaudieren die Besucherinnen und Besucher in der Buchhandlung stehend.
Magische Büchernacht: Am Ende applaudieren die Besucherinnen und Besucher in der Buchhandlung stehend. © regios24 | Stefan Lohmann

Da sitzen sie nun, die Anna, der Christian, der Peter, das ist ja der Fluch an der Oker, dass wir uns alle so gut kennen, besser gesagt: Harz aber herzlich! Louie singt, wer sonst: „Es gibt so trübe Tage … viel zu viel Fassade … viel zu viel Kommerz ...“ Mit Schmelz, da ist es nicht so schlimm. Es ist nicht so, dass diese Texte nicht kritisch sind, stattdessen voller Ironie und beißendem Spott. So dichtete Schanz sein eigenes Niedersachsenlied: „Sturmfest wurmfest erdverwachsen drecknest inzest krummzerwachsen reißfest beißfest krautgewachsen schußfest volksfest niedersachsen.“

Ann Claire Richter rezitiert das wie auch andere Auszüge aus ihrem Buch mit Spott und Eleganz in der Stimme, kundig, sympathisch distanziert, aber auch irgendwie verschworen. Wenn die Bengels ins Plaudern kommen, lässt sie sie reden. Peter Schanz sagt: „Danke, Publikum!“ Damit sind nicht nur die Leute in der Buchhandlung gemeint. Ach ja, Donnerstag beginnt der Vorverkauf für „Stille Nacht in Gliesmarode“. Dann Zugabe. Stehende Ovationen bei Graff. Das hatten sie da auch noch nicht.

Das Buch:

„20 Jahre für Braunschweich – Das Stadt-Theater von Eitner & Schanz“ von Ann Claire Richter, herausgegeben von der monofon GmbH, ist im Buchhandel und in den Geschäftsstellen unserer Zeitung erhältlich. Das reichhaltig illustrierte Buch hat 144 Seiten und kostet 25 Euro. Ein Download-Link führt zu 45 Songs aus den Stücken