Braunschweig. Luc Degla zu Gewalt in der Kindererziehung und kulturelle Unterschiede zwischen Europa und seiner Heimat Benin.

„Fremde Kinder sieht man mit anderen Augen“, sagt ein beninisches Sprichwort. Dieser Satz geht mir seit dem Jahresbeginn nicht aus dem Kopf. Es stört mich in Deutschland, dass, sobald ausländische Kinder sich danebenbenehmen, man gleich mit großen Wörtern um sich wirft: „Sie wollen sich nicht integrieren!“, „Sie müssen das Grundgesetz respektieren!“ Die deutsche Gesellschaft blickt ausschließlich auf sich selbst. Aber wie sieht es in anderen Ländern aus? Da ich mich seit Jahren nur noch kurz in Benin aufhalte, weiß ich nicht, wie die Beniner heute ihre Kinder erziehen. Ich möchte aber gerne über meine eigenen Erfahrungen berichten.

Ein Blick zurück in die Kindheit

Luc Degla hat im Benin Mathematik und in Moskau und Braunschweig Maschinenbau studiert. Der freie Autor lebt in Braunschweig. In seiner Kolumne beschreibt er sein Leben mit den Deutschen.
Luc Degla hat im Benin Mathematik und in Moskau und Braunschweig Maschinenbau studiert. Der freie Autor lebt in Braunschweig. In seiner Kolumne beschreibt er sein Leben mit den Deutschen. © Privat | Foto-Artmann GmbH Damm 20/21 381

Mein Vater hat in den Siebzigerjahren eine Schule in einer kleinen Stadt auf dem Land geleitet. Dort gab es zu der Zeit weder fließendes Wasser noch Strom. Viele Eltern aus den Großstädten verbannten ihre ungehorsamen Kinder dorthin. Sie lebten allein, fern von Verwandten und Freunden, mindestens ein Jahr lang. Die Minderjährigen unter ihnen wurden unter die Obhut meines Vaters gestellt, der dafür kein Geld bekam, dadurch aber über einen beachtlichen Hühnerstall verfügte. Je weiter Benin elektrifiziert wurde, desto weiter wurden die rebellischen Stadtkinder aus der Hauptstadt in den Norden geschickt. Ein Cousin verbrachte ein Jahr 600 Kilometer entfernt von Zuhause.

Wenn man weiß, wie vielvölkerreich Afrika ist und wie unterschiedlich die Regionen sind, kann man sich vorstellen, dass er sich in dieser Gegend fast wie im Ausland gefühlt haben muss. Auf alle Fälle war er wie verwandelt, als er in den Süden zurückkehrte. Er bot seinem Vater nicht mehr die Stirn und hat aufgehört, sich dauernd mit den Nachbarskindern zu prügeln.

Die Peitsche an der Wand

Ich hatte Glück, mein Vater gehört zu den seltenen beninischen Vätern, die Kinder nie geschlagen haben, weder seine eigenen noch die fremden Schulkinder. Meine Mutter war im Gegensatz zu ihm die Böse. In jedem beninischen Haushalt hing die Peitsche demonstrativ an der Wand. In den Ministerien und in der Lehrerschaft wurde viel darüber diskutiert, ob man mit der körperlichen Züchtigung fortfahren sollte oder nicht. Zu jedem Schuljahresbeginn waren wir, Schülerinnen und Schüler, gespannt auf den Lehrer oder die Lehrerin, die wir in der Klasse vor uns haben würden. Es gab auch ein ungeschriebenes Gesetz, dass man nur bis zur 6. Klasse geprügelt werden durfte. Ab der 7. Klasse wurden die Schüler mit einer Note für die Disziplin im Schulheft belohnt oder bestraft. Diese Note konnte trotz guter Zensuren in anderen Fächern zu der Wiederholung einer Klasse führen.

Europäische Erziehungsmethoden als fehlende Integration

Obwohl ich die Prügelstrafe hasste und hasse, war ich als Schulkind neugierig zu wissen, wie sie es in Europa schaffen, Recht und Ordnung zu Hause und in den Schulen ohne Prügeln durchzusetzen. Da man nicht nach Europa reisen musste, um Europa zu erleben, war ich eines Tages Zeuge der europäischen Erziehungsmethoden. Der Sohn einer Französin, die auch in meinem Gymnasium unterrichtete, ohrfeigte unseren Lehrer. Ein Skandal! Der Schulleiter schickte einen Schüler zu der Mutter und bat sie vorbeizukommen. Statt auf ihren Sprössling zu schimpfen, nahm sie ihn in den Arm: „Was hast du angestellt? Mein Liebling. Wie kannst du deinen Lehrer ohrfeigen?“ und streichelte ihm den Kopf. Damit provozierte sie nur Kopfschütteln bei ihren Kolleginnen und Kollegen, die ihre Reaktion als eine fehlende Integration in die beninische Gesellschaft gesehen haben.

Ein Schulkamerad wohnte mit seinen Cousinen und Cousins auf einem großen Anwesen. Das Grundstück gehörte dem Großvater, der seinen Kindern gestattet hatte, ihre eigene Wohnung darauf zu bauen. Man kann sich den Trubel vorstellen, der dort herrschte, als die Enkelkinder in die Pubertät kamen. Es gab ständig Prügeleien und Streitereien. Eines Tages hatte der Großvater genug von dem Lärm und rief an einem Freitag die Polizei herbei, die sich als Ordnungshüter auch als Volkserzieher sahen, und ließ alle seine Enkelkinder abführen, die daraufhin das Wochenende auf dem Polizeirevier gemeinsam mit Moskitos und Mäusen verbrachten. Nach ihrer Rückkehr am Montag früh kehrte in das Haus Ruhe ein.

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