Braunschweig. Monatelange Wartezeiten: Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen finden schwer Hilfe. Corona hat das Problem noch mal verschärft.

„Leider können wir Ihnen in den nächsten 9 bis 12 Monaten keinen Therapieplatz anbieten, bitte berücksichtigen Sie das bei Ihren Anfragen“ – so klingt der Text auf dem Anrufbeantworter von Tanja Witte und Sandra Fiebig. Die beiden teilen sich eine Praxis für Kinder- und Jugendlichen-Psychiatrie am Ritterbrunnen. „Ich habe diesen Text auf den Anrufbeantworter gesprochen, weil wir drei bis sechs Anrufe pro Tag haben, aber keinen einzigen freien Termin.“

30 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten gibt es im Bezirk Braunschweig-Salzgitter. „Das waren schon immer zu wenig, aber jetzt ist es eine Katastrophe für die betroffenen Familien“, sagt Witte. Denn durch Corona hat sich die Anzahl der Anfragen allein in ihrer Praxis mehr als verdreifacht. Der Kinder- und Jugendreport 2022 der Krankenkasse DAK spricht von einem „sprunghaften Anstieg“ der Zahl der Jugendlichen, die während der Pandemie wegen einer psychischen Störung behandelt werden mussten. Wir haben mit Tanja Witte über das Thema gesprochen.

Ihr Anrufbeantworter klingt nach Kapitulation?

Ist es auch. Auf eine gewisse Weise. Ich weiß, dass es eine Katastrophe für die Kinder und für die Familie ist zu sagen: Wir haben keinen Termin. Deshalb übernimmt das der AB. Es ist schwer, immer wieder weinenden Müttern am Telefon absagen zu müssen und diese an Kollegen zu verweisen, von denen ich weiß, dass sie selbst ähnliche Wartezeiten haben.

Was sind die Gründe für diese Terminknappheit?

Ich arbeite seit 2010 in Braunschweig als Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche. Und wir sind und waren schon immer zu wenig. Aber der Bezirk Braunschweig-Salzgitter gilt als versorgt. Die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen bestimmt nach einer festgelegten Bedarfsplanung weitere Niederlassungen. Und danach sind wir genug.

Es gibt eine ganze Menge junge Kollegen, die in die Praxis wollen, aber das können sie erst, wenn ein älterer Kollege in Teilzeit oder Rente geht. Absurd. Wir könnten locker 15 Therapeutinnen und Therapeuten mehr in unserem Bezirk gebrauchen.

Aus welchem Jahr stammt diese Planung?

Sie wurde mit dem Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes 1999 festgelegt. Ein Therapeut auf 3000 Einwohner. Punkt. Das war schon immer zu wenig. Und Kinder- und Jugendliche zählen da nicht extra.

Aber sie müssten extra gezählt werden?

Auf jeden Fall. Kinder bringen einige Besonderheiten mit: Sie können in der Regel nur nachmittags therapiert werden, weil sie vormittags in der Schule sind. Sie können ihre Gedanken und das Erlebte noch nicht so schnell in Worte fassen. Eine Behandlung kann sich langwierig gestalten. Und das lange Warten auf eine Behandlung wirkt sich noch einmal negativ aus. Gerade in jungen Jahren können die Probleme schneller chronifizieren.

Wie wirkt sich das aus?

Wenn eine Störung frühzeitig therapiert wird, reichen meist 20 bis 40 Sitzungen. Wenn das Kind aber zu lange auf eine Therapie warten muss und sich die Störung chronifiziert hat, kann die Behandlung zwei bis drei Jahre dauern. Das ist für das Kind furchtbar, für die Familie und es kostet die Krankenkassen auch noch deutlich mehr Geld.

Welche Störungen haben sich durch Corona verstärkt?

Ängste, Depressionen, Essprobleme. Wobei Essprobleme auch mit Angst und Kontrolle zu tun haben. Kinder und Jugendliche sind von pandemiebedingten Belastungen deutlich stärker betroffen als Erwachsene. Wichtige Entwicklungsschritte wie Selbstpositionierung und das Entstehen von ersten Beziehungen konnten nicht wirklich stattfinden.

Wie alt sind ihre Patientinnen und Patienten?

Zwischen 5 und 20 Jahren.

Gibt es eine Hauptgruppe?

Ja, zurzeit sind acht Mädchen zwischen 15 und 19 bei mir in Behandlung mit Essstörungen.

Wie erreichen sie diese Mädchen?

Nicht über die Vernunft. Ich sage zum Beispiel, dass Magersucht die Gehirnmasse schrumpfen lässt und die kognitive Leistungsfähigkeit verringert, aber das erreicht sie nicht. Wir arbeiten mit Emotionen, wir versuchen Sicherheit aufzubauen, das Selbstwertgefühl zu verbessern, die Selbstwahrnehmung zu stärken. Selbstwirksamkeitsgefühle herzustellen. Magersucht ist immer wieder in Wellen ein Thema.

Haben Sie ein Beispiel?

Eben läuft auf Netflix die Serie „Emily in Paris“. Für mich ist die Schauspielerin Lily Collins nach wie vor extrem schlank und sieht nicht so aus, als ob Essen in ihrem Tagesablauf überhaupt vorkäme. Sie sagt selbst, sie wäre aufgrund ihrer Essstörung jahrelang in therapeutischer Behandlung gewesen und hätte diese überwunden. Das sehe ich eher kritisch. Wenn ich könnte, würde ich solche Serien und Filme verbieten.

Dazu kommen die völlig unrealistischen Bilder, die sich die Mädchen den ganzen Tag auf Insta und Co. anschauen. Es ist schwer für sie, eine gesunde Realität zu akzeptieren und ein adäquates Körperbild zu entwickeln.

Wie kommen die Mädchen und auch die anderen Patienten zu Ihnen in die Praxis?

Immer wieder mal ist es die Schule – Lehrerinnen und Lehrer, die aufmerksam werden und das Problem ansprechen. Eine Tante, eine Oma, die Eltern. Es braucht immer jemanden, der das Kind sieht.

Wie reagieren Eltern in der Regel auf solche Hinweise von außen?

Zunächst meist mit Abwehr. Sie kommen mit dem Kind dann zu mir wie in eine Autowerkstatt. Sie wollen, dass das Kind wieder funktioniert und ich schnell die dafür notwendigen Reparaturarbeiten erledige.

Aber häufig sind die Eltern ein Teil des Problems, manchmal auch das komplette Problem und das Kind ist einfach nur der Symptomträger. Mehrere Mütter beispielsweise, die ihre Töchter mit Essstörungen hierher begleiten, haben selbst ein extrem auffälliges Essverhalten und alles an Diäten durch, was man sich vorstellen kann. Vorbildsein funktioniert eben auch in die andere Richtung.

Sind auch Väter als Begleiter dabei?

Selten. Väter haben keine Zeit. Oder sie sitzen daneben und sagen: „Damit kann ich nichts anfangen.“

Haben Sie Tipps? Wann ist ein Verhalten ein Problem, wann sind Auffälligkeiten „normal“?

Mein erster Tipp: Eltern sind Eltern und nicht Freunde ihrer Kinder. Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr. Das heißt auch: Sehen Sie Ihr Kind. Hören Sie hin. Hören Sie zu. Ich saß neulich im Café, neben mir junge Eltern mit einem kleinen Kind. Vater und Mutter ins Handy versunken. Da muss das Kind ja ausrasten, um Aufmerksamkeit zu bekommen.

Würden Sie diesen Beruf noch einmal wählen?

Ja. Ich hatte selbst nicht immer eine schöne Kindheit. Ich möchte, dass Kinder und Jugendliche gesehen werden, dass jemand da ist, der zuhört. Das hat mir damals gefehlt.

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