Braunschweig. Auf nur 75 Quadratmetern Gartenfläche in Melverode bleibt bei John Collins nichts unentdeckt, was kreucht und fleucht. Ein Besuch.

Als ein Rotmilan über der Oker kreist, gar nicht weit von seinem Garten in Melverode entfernt, unterbricht John Collins unser Gespräch, wir schweigen – und John schaut versunken in den Himmel, beobachtet, speichert ab. Und ist zufrieden. Ein schönes Fleckchen Erde hier. Es lebt. Und wie.

Den Rotmilan hat er natürlich schon als Bild in seinen Datenbanken, so wie alle Vogelarten des Braunschweiger Landes, die er im Laufe der Jahre fotografiert hat. Doch dann kam Corona, die Pandemie – und John hatte einen kühnen Plan. Er brach auf zur täglichen Safari in seinem eigenen Garten. Nun muss man sich den wirklich nicht so riesig vorstellen. Genau genommen sind es 75 Quadratmeter ...

Den Garten in Sektoren und Quadranten eingeteilt. Da bleibt kein Blatt, keine Blüte, kein Grashalm unbeachtet

Da gibt’s größere. Aber es gibt vermutlich keinen in Stadt und Land, der je so gründlich daraufhin durchgecheckt worden wäre, was da wirklich alles kreucht und fleucht. Collins, der bekannte Forscher und Mikrobiologe, vormals Helmholtz-Zentrum in Stöckheim, hat seinen Garten in Sektoren und Quadranten eingeteilt. Da bleibt kein Blatt, keine Blüte, kein Grashalm unbeachtet. Überall ist Arche.

Jeden Tag geht John auf Exkursion vor der eigenen Türschwelle, manchmal zehn Minuten, manchmal zwei Stunden, aber auch nicht länger. Unklar, welche Welten sich nun heute wieder auftun werden. Aber eins ist gewiss: Es ist immer etwas Neues dabei. Im Schnitt entdeckt John, wie er sagt, täglich zwei neue Arten. Natürlich sind es keine Erstentdeckungen, aber in diesem klitzekleinen Garten in Melverode und in der näheren Umgebung, da schon. John hat bereits 475 verschiedene Arten gezählt, beobachtet, fotografiert, dokumentiert. In nicht allzu ferner Zeit könnten es 500 sein.

Rund 500 Arten in einem einzigen Braunschweiger Garten

Graue Sandbiene.
Graue Sandbiene. © John Collins
Gewöhnliche Filzbiene.
Gewöhnliche Filzbiene. © John Collins
Grüner Scheinbock.
Grüner Scheinbock. © John Collins
Moschusbock.
Moschusbock. © John Collins
Ameisensackkäfer.
Ameisensackkäfer. © John Collins
Lilienhähnchen.
Lilienhähnchen. © John Collins
Zweifleckiger Zipfelkäfer.
Zweifleckiger Zipfelkäfer. © John Collins
Weidensandbiene.
Weidensandbiene. © John Collins
Rote Mauerbiene
Rote Mauerbiene © John Collins
Maskenbiene.
Maskenbiene. © John Collins
Kegelbiene.
Kegelbiene. © John Collins
Große Wollbiene.
Große Wollbiene. © John Collins
Goldbiene.
Goldbiene. © John Collins
Dunkle Erdhummel.
Dunkle Erdhummel. © John Collins
Blauschwarze Holzbiene.
Blauschwarze Holzbiene. © John Collins
Auenblutbiene.
Auenblutbiene. © John Collins
Ackerhummel.
Ackerhummel. © John Collins
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Reden wir mal davon, was das alles ist. Vögel natürlich. Bienen, Käfer, Schmetterlinge, Libellen. Sichtungen von Säugetieren, Maulwurf, Igel, Eichhörnchen und Co. Schnaken, Schnecken, Schwebfliegen. Und, ganz ehrlich, so richtig Vielfalt kommt mit der Welt der Motten, Spinnen, Fliegen, Wespen, Zikaden, Schrecken und Hüpfer ins Spiel der Natur. Ach ja, die Wanzen nicht zu vergessen. Trotz ihres schlechten Images geben sie ein wunderbares Bild an Phantasie der Formen und der Vielfalt ab. Wunder der Anpassung an Lebensräume, und darum geht es ja.

Eine Ästhetik, die möglicherweise nicht jeder Zeitungsleser nachvollziehen kann, deshalb haben wir uns bei Johns Bildern auf dieser Seite hier mal auf die populären Wildbienen und die schmucken Käfer konzentriert.

Wie identifiziert er sie? So gründlich wie möglich. Studium der Fotos, Vergleich mit der Literatur. Weltweite Recherche mit der App iNaturalist, ein Citizen-Science-Projekt, das die Biodiversität auf unserer Erde dokumentiert.

John Collins macht das für seine Enkel. Für sie ist wichtig: Schaut genau hin, schaut besser hin. Es lohnt sich

Und warum eigentlich, für wen macht er das, außer natürlich für sich selbst, die Neugier und seinen Forschergeist?

„Für meine vier Enkel“, sagt der 77-Jährige. Ihnen will er vermitteln, was kostbar und wichtig ist. Und so schuf der gebürtige Brite für sie ein privates „Closer Look Book“. Schaut genau hin, schaut besser hin. Es lohnt sich. Und es ist wichtig, weil auch wir Menschen in einem komplexen System, in dem nichts, aber auch wirklich gar nichts isoliert betrachtet werden kann, vom Gedeihen all dieser Arten und dieser Vielfalt abhängig sind.

Letztlich eine Lektion in populärer Diversität, was jetzt allerdings auch die zwei großen Probleme von Johns „Closer Look Book“ illustriert. Erstens: Jeder, der eins sieht, will auch eins haben. Und wenn so ein Fotobuch mal wieder gedruckt wird, dann hat John längst schon wieder neue Arten entdeckt. So viel Leben im Garten, da kommst du gar nicht hinterher.

Das ist der Punkt. Es beschert einem wie Collins, der als Professor der Mikrobiologie in seiner wissenschaftlichen Laufbahn als einer der Pioniere der DNA-Sequenzierung und Gentechnologie gilt, ganz neue Heureka-Momente.

So wie vor ein paar Tagen, als er nicht weit vom Gartentisch entfernt eine Wespe entdeckte, die offenbar auf große Spinnen als Beute spezialisiert ist. Nun gibt John nicht Ruhe, bis er mehr darüber herausgefunden hat.

Und er will gern ein Vorbild sein. Denn seine Entdeckungen, die können ja jeder und jede bei sich zuhause auch machen. „Ich merke doch, wie überrascht und begeistert die Leute sind“, erzählt er. Eine Dimension, durchaus auch von Wissenschaft, die ihn fasziniert. Wir grübeln darüber, plaudern wir noch, ob Menschen im Weltraum leben können. Aber eigentlich kennen wir doch noch nicht einmal unseren eigenen Garten richtig. „So ging’s mir auch. Und dann habe ich diese Welt für mich und meine Enkel entdeckt“, erzählt John.

Also, gern nachmachen.

30.000 Fotos auf dem Rechner, 75.000 Rohdateien. Speicherkapazität – das ist eigentlich der einzige limitierende Faktor

Ein bisschen Konsequenz gehört aber schon auch dazu. John kennt seine Touren zu bestimmten Tageszeiten, wenn er mit dem iPhone oder der Kamera mit Makroobjektiv und aufgepflanztem Ringlicht aufbricht, die Motten triffst du halt frühmorgens oder abends, alles was Blüten besucht, dann am besten eher mittags. „Man muss den ganzen Tag abdecken.“ Eine Systematik, wie sie der Forscher schätzt, auch beim Dokumentieren. 30.000 Fotos hat er auf dem Rechner, 75.000 Rohdateien. Speicherkapazität – eigentlich der einzige limitierende Faktor in dieser schönen Geschichte.

Und dann diese Riesenfreude, wenn mal wieder etwas Neues dabei ist. „Das macht mich tagelang glücklich“, erzählt er. Jedenfalls hat sich das auf Gattin Marie-Christiane auch schon übertragen, die zwar nicht ganz so akribisch und systematisch vorgeht, auf deren Konto aber doch auch bereits Entdeckungen im Garten gehen.

Letztlich Lektionen in Sachen Vielfalt und Möglichkeiten in Lebensräumen, von denen wir hier sprechen. Dafür musst du nicht in die Serengeti oder in den Regenwald reisen, Oker, Südsee und andere Biotope in unserem Stadt-Dschungel sind ebenfalls spektakulär genug – und ebenso lohnt es sich, sie zu bewahren, indem man sie überhaupt erstmal kennt und zur Kenntnis nimmt.

„Ich will ja nur, dass die Leute ihre Augen und ihren Verstand offen halten“, sagt John noch.

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