Braunschweig. „Welches Bett möchten Sie?“ – Unser Reporter lässt sich für eine Nacht in der Unterkunft An der Horst einquartieren.

Es ist fast schon ein Ritual: Wenn die kalte Jahreszeit beginnt, wenn Glühweinbuden aufgebaut und Geschenke für die Lieben gekauft werden, dann rückt das Thema Obdachlosigkeit stärker ins Bewusstsein. Wegen der Weihnachtsgeschichte, in der die heilige Familie in einer fremden Stadt Unterkunft suchte und in einem Stall unterkam. Oder auch, weil schon die Vorstellung, bei Minustemperaturen im Freien übernachten zu müssen, ein Alptraum ist.

Diese Menschen gibt es – auch in Braunschweig.

Babara Horn, Sozialarbeiterin im Tagestreff Iglu in der Wilhelmstraße: „Ich kenne hier einige, die lieber im Wald schlafen, als sich in die städtischen oder diakonischen Einrichtungen zu begeben.“ Das Iglu ist eine sogenannte niedrigschwellige Anlaufstelle für Menschen in Not, betrieben von der Diakonischen Gesellschaft.

Hier geht es nicht nur um Wohnungslosigkeit, sondern um alle Arten von Notlagen: Arbeitslosigkeit, finanzielle Probleme, Einsamkeit, gesundheitliche Beeinträchtigungen. Geöffnet unter der Woche von 8 bis 14 Uhr, gibt es für wenig Geld Frühstück und Mittagessen, man kann duschen und seine Wäsche waschen und trocknen, und man kann sich beraten und weiterhelfen lassen.

„Manche haben Probleme damit, sich helfen zu lassen“

Manche kommen nur, um sich auszuruhen, sich zu unterhalten, Zeitung zu lesen oder Karten zu spielen. „Das ist in Ordnung“, sagt Barbara Horn, wir drängen niemand etwas auf.“ Sie arbeitet seit über 20 Jahren als Sozialarbeiterin, kennt ihre Kundschaft gut. Im Schnitt besuchen täglich 65 Personen das Iglu, davon sind zwei Drittel Männer.

„Wohnungslosigkeit ist unser größtes Problem“, sagt Barbara Horn. Aber warum schlafen Menschen auch im Winter lieber im Freien, anstatt die städtischen und diakonischen Hilfsangebote anzunehmen? Schließlich legt die Stadtverwaltung Wert auf die Feststellung, dass für jede Bedürftige und jeden Bedürftigen ein Bett und ein Dach über dem Kopf bereit steht.

„Manche haben Probleme damit, sich überhaupt helfen zu lassen. Und in die Notaufnahmestelle ,An der Horst’ gehen viele prinzipiell nicht rein“, erläutert Barbara Horn und präzisiert: „Keine Privatsphäre, zu unsicher, Angst vor Übergriffen.“

Die städtische Gemeinschaftsunterkunft An der Horst.
Die städtische Gemeinschaftsunterkunft An der Horst. © Erwin Klein | Erwin Klein

Das will ich genauer wissen. Aber nicht durch Nachfragen, sondern aus eigenem Erleben.

Braunschweig-Weststadt, An der Horst 7. Den Madamenweg immer stadtauswärts, hinter der Autobahnunterführung und nach dem Fußballplatz des VfB Rot-Weiß 04 rechts ab. Drei schmucklose Wohnkästen, dahinter das flache Verwaltungs- und Empfangsgebäude. Ich komme Montagabend, kurz vor 20 Uhr. Ich habe keine Ahnung, wie es zugeht in Obdachlosen-Unterkünften. Habe auch keinen Plan. Will einfach hier übernachten.

Meine Geschichte: Ich bin rausgeflogen und beklaut worden, habe keine Möglichkeit, bei Freunden und Bekannten zu schlafen, habe zu wenig Geld für eine Pension.

Wenn man auf den Eingang zugeht, flammen plötzlich Scheinwerfer auf. Blendend helles Licht, eine Atmosphäre wie in alten Agentenfilmen. Der Empfang ist ein Fenster mit eingelassener Sprechöffnung. Darüber leuchtet ein roter Neon-Schriftzug: „Frohe Weihnachten“.

Ein Mann hinter der Scheibe bemerkt mich zunächst nicht, ich klopfe. Die Sprechklappe wird geöffnet. „Ja?“ Ich erzähle meine Geschichte, frage nach einer Schlafmöglichkeit. Er betrachtet mich, will meinen Ausweis sehen. Ich verneine. Wieder schauen, überlegen. Dann: „Moment.“

Er verlässt sein Büro, kommt um die Ecke gebogen, geht an mir vorbei. Ich folge ihm. Den Gang entlang, erster Eingang links, eine Treppe rauf, rechte Tür, Zimmer 004.

Darin stehen vier Bettgestelle, auf dreien liegt eine Matratze, dazu jeweils Bettwäsche und eine Rolle Klopapier. „Welches Bett möchten Sie?“ Ich deute auf das am Fenster, er nickt, erklärt mir kurz die Regeln. Ausgang möglich bis 2.30 Uhr, solange kann er das Zimmer wieder aufschließen – es gibt außen keine Türklinke. Die anderen Betten würden eventuell noch belegt.

Er zeigt mir noch Waschraum, Dusche und Toilette, wünscht mir höflich eine gute Nacht – dann geht er zurück zu seinem Arbeitsplatz. Erstmal setzen. Zu jedem Bett gehört ein Stuhl, mehr Mobiliar gibt es nicht. An der Decke grelles Neonlicht, die Rauchmelder sind mit Gitter geschützt.

Keine Vorhänge. Keine auffälligen Gerüche, auch nicht nach Zigarettenrauch. Die Bettwäsche angenehm frisch gewaschen. Das Bettgestell nicht allzu durchgelegen, ich habe schon Schlechteres erlebt. Kurzer Blick in Waschraum und Toilette: klein, eng, ebenfalls sauber.

Ich beziehe mein Bett – und weil es sonst nichts zu tun gibt, lösche ich die Deckenleuchte und lege mich hin. Von draußen scheint Licht herein, überall gibt es Bewegungsmelder, die irgendwo ständig anspringen. Ab und zu Getrappel, im Hintergrund Musik, sonst ist es ruhig. Gegen 22 Uhr geht die Tür auf. Der Mann vom Empfang bringt den nächsten Übernachtungs-Kandidaten.

Die beiden unterhalten sich leise, das Licht im Zimmer bleibt aus. Im Halbschlaf bekomme ich mit, wie der Neue seine Sachen verstaut, sich ebenfalls hinlegt. Irgendwo im Haus wummert noch Musik. Am nächsten Morgen, es ist noch früh: Wo bin ich? – Räkeln, Aufstehen, kurzes Hallo, Zähneputzen, Waschen, Anziehen. Das Bettzeug zusammenlegen, bloß raus.

Wie viele sich irgendwie durchschlagen, das weiß man nicht

Man kann hier schlafen, aber sonst gar nichts. Im Flur und auf den Gängen ist noch alles still. An der Wand ein Zettel: „Wir möchten Sie zu unserer Weihnachtsfeier herzlich einladen.“ Am Empfang ein anderes Gesicht als gestern Abend, und wieder das leuchtende „Frohe Weihnachten“.

Ich verlasse die Gebäude, niemand hält mich auf, warum auch. Zu Fuß zurück Richtung Innenstadt, erstmal einen Kaffee. Wohnungslos in der Notaufnahme – so fühlt sich das also an, zumindest für eine Nacht.

Die offiziellen Zahlen für Braunschweig lauten wie folgt: Wohnungslose Personen in städtischen Unterkünften untergebracht – 2015: 242 Personen, 2018: 204 Personen. Menschen ohne Wohnung – 2017: 479 Personen, 2018: mindestens 444 Personen.

Das sind lediglich die Registrierten, wie hoch die Dunkelziffer derjenigen ist, die sich irgendwie durchschlagen und sich nicht bei den Ämtern melden, weiß niemand genau.

Zuständig bei der Stadt ist der Fachbereich Soziales und Gesundheit. Tanja Jonnek, Stellenleiterin der Zentralen Stelle für Wohnraumhilfe sowie Unterbringung, und Beate Koch, Stellenleitung Wohnhilfe, erklären die Zielsetzung der Stadtverwaltung. Es wird versucht, Wohnungslosigkeit bereits im Vorfeld zu verhindern.

Dazu bietet das Amt umfassende Beratung, Verhandlungen mit Vermietern und Versorgungsunternehmen und manchmal auch finanzielle Hilfe bei Mietrückständen an. Voraussetzung: Die Betroffenen müssen sich melden. Daran scheitert es oft.

Beate Koch: „Manche Menschen geraten in eine Abwärtsspirale, aus der sie nicht mehr allein herauskommen und in der sie auch kaum um Hilfe bitten können. Auslöser kann vieles sein. Scheidung, Arbeitslosigkeit, Tod eines engen Angehörigen, Krankheit, Einsamkeit.

Einige schalten völlig ab, öffnen beispielsweise keine Briefe mehr, und dann steht plötzlich die Zwangsräumung an. Wenn das Schlimmste passiert und die Wohnung weg ist, greift die Stadt auf vielfältige Weise ein. Zunächst hat jeder Mensch das Recht auf eine Notunterkunft – Männer können sich An der Horst melden, Frauen wird beim Polizeikommissariat Mitte in der Münzstraße geholfen.

Tagsüber sind neben „Iglu“ auch die Bahnhofsmission, die Frauen-Beratungsstelle „Unter uns“ am Kohlmarkt und diverse Stadtteilläden der Diakonischen Gesellschaft mögliche Anlaufstellen für Obdachlose. Die Stadt bemüht sich, die Betroffenen nach der ersten Aufnahme möglichst schnell in angemieteten Wohnungen in einem eigenen Zimmer ähnlich einer Wohngemeinschaft unterzubringen.

Der Hauptgewinn ist eine neue eigene Wohnung. Keine leichte Übung bei der derzeitigen Braunschweiger Vermietungs-Situation. Dass es viel zu wenig günstigen Wohnraum gibt, ist eine Binsenweisheit. Außerdem sind Obdachlose für Vermieter nicht unbedingt Wunsch-Vertragspartner.

Hier hat die Stadt mit einigem Erfolg vor gut zwei Jahren das Programm „Ihre Wohnung … ein Neuanfang“ gestartet. Wohnungseigentümer bekommen hohe Anerkennungsbeiträge, wenn sie an Wohnungslose vermieten. Außerdem ist ein Probewohnen möglich und die Stadt steht als Ansprechpartner bei eventuellen Problemen bereit.

Bisher wurden rund 40 Mietverträge auf diese Art abgeschlossen. Tanja Jonnek: „Inzwischen kommen Vermieter von sich aus auf uns zu. Es hat sich herumgesprochen, dass das Modell funktioniert.“ Beate Koch ergänzt: „Wenn ein Mietvertrag unterschrieben wird, ist das meist ein sehr emotionaler, berührender Moment, der den neuen Mietern viel bedeutet.“

Wer etwas weiß oder helfen will, kann sich hier melden

Im Tagestreff Iglu geht es derweil um ganz konkrete Dinge. Lebensmittel für das tägliche Frühstück und den Mittagstisch müssen gekauft werden. Schlafsäcke werden benötigt und warme Kleidung. Manchmal fehlt auch das Geld für Passfotos, mit denen ein Personalausweis beantragt werden kann.

Und dann hat Barbara Horn noch eine Extra-Bitte: „Wir suchen dringend billige Pensionszimmer, damit wir den Menschen, die nicht in eine Notunterkunft gehen wollen oder können, einen Schlafplatz anbieten können. Die würden sonst wahrscheinlich weiter im Wald übernachten.“

Wer etwas weiß, spenden, oder sonstwie helfen will: Tagestreff Iglu, (0531) 12167832.

* Unser Mitarbeiter Erwin Klein war für diese Reportage im Auftrag der Redaktion vor Weihnachten unterwegs.