Braunschweig. Vor dem Landgericht hat am Montag der Prozess gegen einen 60-Jährigen begonnen. Der Braunschweiger soll sich an den 13-Jährigen vergangen haben.

Ständig die Bauchschmerzen, das Kopfweh oder Übelkeit, um dem wöchentlichen Nachhilfeunterricht zu entgehen – nein, die Mutter konnte diese Warnsignale nicht deuten. Das sei wohl die Pubertät, glaubte sie. Und erklärte der Tochter, sie solle froh sein, dass die Eltern diese Hilfe überhaupt finanzieren könnten.

Bis sie einmal mit einem Kaffee ins Kinderzimmer platzte und der Nachhilfelehrer seelenruhig seine Hand aus dem T-Shirt ihrer 13-jährigen Tochter gezogen und nach der Tasse gegriffen habe. „Für ihn schien es das Normalste auf der Welt zu sein. Dieses Bild werde ich bis heute nicht los.“

Im großen Schwurgerichtssaal des Braunschweiger Landgerichts sitzt die 46-Jährige als Zeugin dem Mann mit grauem Vollbart und Jeanshemd gegenüber, der ihre Tochter zwischen Januar 2016 und Februar 2017 laut Anklage elfmal sexuell missbraucht haben soll – im eigenen Wohnhaus, hinter der stets verschlossenen Tür zum Kinderzimmer.

Die Schülerin, so habe es der private Nachhilfelehrer begründet, solle nicht abgelenkt werden. Ohnehin könne sie sich nicht konzentrieren, sei verhaltensauffällig, habe er behauptet. Manchmal habe sie ihn deshalb oben im Zimmer brüllen hören. „In der Schule dagegen galt meine Tochter als ruhig und konzentriert“, erfuhr die Mutter bei Lehrern auf Nachfrage.

Angeklagter wurde vorher noch gelobt

Am ersten von fünf angesetzten Prozesstagen räumt der 60-Jährige die Straftaten ein, die ihm die Staatsanwaltschaft in zwei Anklagen vorwirft:

Denn die Anklage wegen elffachen sexuellen Missbrauchs war schon verfasst und ein Gerichtstermin anberaumt, als sich im Frühjahr ein weiteres Opfer des Nachhilfelehrers bei der Polizei meldete: In diesem zweiten Fall soll sich der Braunschweiger zwischen August und Dezember des vergangenen Jahres 16-mal des schweren sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht haben. Auch seinem zweiten mutmaßlichen Opfer – damals 13 Jahre alt – hatte er Nachhilfeunterricht erteilt, sich laut einem Ermittler auch darüber hinaus um das Mädchen gekümmert. Aus Sicht des Vaters sei er eher ein Freund der Familie gewesen.

Überhaupt schien der Angeklagte bei Eltern gut anzukommen. Als der Hauptkommissar die Eltern aller ermittelten Nachhilfeschüler anrief, um sie nach möglichen weiteren Auffälligkeiten zu fragen, überraschten ihn die Antworten: In höchsten Tönen, erinnert er sich vor Gericht, hätten viele von ihnen den Nachhilfelehrer gelobt. „Eine Mutter lachte mich regelrecht aus, woher solche Vorwürfe denn kämen.“

Von den einschlägigen Vorstrafen des Pädagogen ahnten die Eltern nichts. Nach eigenen Angaben hatte der Angeklagte vor etwa sieben Jahren begonnen, auf einer eigenen Website im Internet für sich als Nachhilfelehrer zu werben. „So kamen die ersten Kontakte zustande.“ Zum Schluss habe er regelmäßig 15 bis 20 Nachhilfeschülerinnen und -schüler betreut – und das auch dank einer Mund-zu-Mund-Propaganda. „Seine Telefonnummer hatte ich von einer Bekannten“, bestätigt die Mutter des ersten Opfers. „Die Nummer wurde von Freundin zu Freundin weitergegeben.“

Bis heute ist ihr die Fassungslosigkeit anzumerken „Man sieht so was im Fernsehen“, sagt sie. „Aber das man selbst betroffen sein könnte...“.

Zweimal die Woche war der Nachhilfelehrer ins Haus gekommen. Schon seit die Tochter in die Grundschule ging. Der Unterricht endete an jenem Nachmittag, an dem die Mutter die Hand des Nachhilfelehrers an der Brust ihrer Tochter sah und ihm unter einem Vorwand telefonisch für immer absagte.

Opfer müssen nicht vor Gericht

Die Tochter habe anfangs abgewehrt: Da sei nichts gewesen. Später, als die Mutter abermals das Gespräch suchte, habe sie zu weinen begonnen und erzählt, dass der Nachhilfelehrer sie küsse und anfasse. „Das ging wohl schon lange so.“

Warum sie den Missbrauch über sich ergehen ließ? Der Mutter gab die 13-Jährige eine Antwort, die bis heute schmerzt: Sie habe es ausgehalten, weil der Mutter die Schulnoten doch immer so wichtig seien.

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurden am ersten Prozesstag die richterlichen Videovernehmungen der beiden Mädchen in die Verhandlung eingeführt. Sie ersparen den beiden mutmaßlichen Opfern die Aussagen vor Gericht.

Für den Angeklagten, der sich in Untersuchungshaft befindet, steht neben einer Strafe auch eine Sicherungsverwahrung im Raum. Die Staatsanwaltschaft hat einen psychiatrischen Sachverständigen mit einem Gutachten unter anderem zur Gefährlichkeit des Mannes beauftragt