Auschwitz. Auszubildende aus den VW-Werken Braunschweig und Salzgitter nahmen an einem Ausbildungsseminar in der Gedenkstätte Auschwitz teil: eine Reportage.

Wenn Ahmed, Auszubildender bei Volkswagen in Salzgitter, darüber nachdenkt, was er da gerade tut, hier, in Auschwitz, in Polen, dann ist die Sache erstmal ganz klar: „Schon ein gutes Gefühl, so einen Zaun hier jetzt mal abzureißen.“

Kemal aus dem Werk Salzgitter erneuert hier mit seiner Gruppe einen Stacheldrahtzaun in Birkenau.
Kemal aus dem Werk Salzgitter erneuert hier mit seiner Gruppe einen Stacheldrahtzaun in Birkenau. © Henning Noske

Das machen sie gerade. Ahmed, Julia, Kemal, Kira, Cindy und die anderen, alle um die 20 Jahre, VW-Azubis aus Braunschweig und Salzgitter. Für knapp zwei Wochen sind sie hier.

Und dieser Zaun da in Auschwitz-Birkenau ist nicht irgendein Zaun. Er sperrte Menschen ein, die in der Zeit des Nationalsozialismus systematisch vernichtet wurden. Gleich da drüben an der Rampe sind sie aus dem Zug gestiegen, zum Beispiel 400.000 Juden aus Ungarn. Dann trieb man die meisten von ihnen mit Sack und Pack zu diesem Wäldchen dahinten. Und nur wenige Meter von Ahmeds Arbeitsplatz entfernt ragen die bizarren Trümmer eines Krematoriums aus dem Boden ...

So sieht das hier aus. Der Boden, auf dem wir stehen, das Gelände, das sie hier bearbeiten, die Baracken, die Schornsteine, die Wege, die Gräben, das Gras, die Birken – es ist ein Friedhof. Allein hier in Auschwitz wurden 1,1 Millionen Menschen ermordet, mindestens 900.000 von ihnen Juden. Es ist nicht nur ein Friedhof, es ist eine Warnung. „Darum sind wir da. So etwas darf es nie wieder geben“, sagt Ahmed.

Der Zahn der Zeit nagt an der Erinnerungslandschaft

Während auf den Wegen unaufhörlich der Strom der Besucher vorüberzieht, Menschen aus allen Teilen der Welt, reißen die VW-Auszubildenden aus Braunschweig und Salzgitter hier gerade einen Zaun ab. Das sorgt für Aufsehen. „Was macht ihr da?“ Man erklärt es, und jedes Wort ist da wichtig.

Abflüsse freischaufeln, Laub fegen, herabgefallene Äste aus den Zäunen holen – Shira und Leon, beide Braunschweig, im Einsatz im früheren Stammlager von Auschwitz.
Abflüsse freischaufeln, Laub fegen, herabgefallene Äste aus den Zäunen holen – Shira und Leon, beide Braunschweig, im Einsatz im früheren Stammlager von Auschwitz. © Henning Noske

Was VW da tut, ist wertvolle Gedenkstättenarbeit, ist Erinnerungskultur. Acht Jahre hält so ein Zaun, das muss man wissen, dann ist er nun mal durchgerostet. Auch Ahmed muss sich während seiner Zeit in Auschwitz an den Gedanken gewöhnen, dass sie da nun auch einen neuen Zaun ziehen müssen. Der hält wieder acht Jahre. Schließlich soll die Welt sehen können, was hier war.

Jetzt sitzen wir dabei, wie Ahmeds Kolleginnen Michelle und Damla im Labor der Gedenkstätte an rostigen Blechschüsseln herumkratzen. Die Abzugshaube ist eingeschaltet, und nebenan wird von Profis in weißen Kitteln in einer Art sterilem OP mit Scheinwerfern von der Decke gerade ein alter Koffer „operiert“. Der Koffer steht für eine ganze Familie.

Vieles von dem, was die Menschen damals mitbrachten, jene, denen sie alles genommen haben, ist noch da. Bergeweise. Unfassbare Mengen. Koffer, Schüsseln, Brillen, Gebetstücher, Scheren, Schuhe, Gebisse, Prothesen, Haare … Das alles gehört zur Erinnerungskultur. Nicht nur für die Besucher. Auch für die Menschen, die hier umgekommen sind. Es hat sie gegeben.

„Und man vergisst sie nicht“, wissen Michelle und Damla. Die Rostflecken auf den Schüsseln breiten sich aus und irgendwann zerbröselt alles. Also kratzt du den Rost vorsichtig ab. Wenn man die Schilderungen von Auschwitz-Überlebenden liest, dann weiß man, wie wichtig so eine Schüssel für wässrige Suppe ist. Sie entscheidet halt über Leben und Tod.

Die angehende Industriemechanikerin Damla (Salzgitter) entrostet die Suppenschüssel eines Häftlings.
Die angehende Industriemechanikerin Damla (Salzgitter) entrostet die Suppenschüssel eines Häftlings. © Henning Noske

Der Zahn der Zeit nagt nicht nur an solchen Erinnerungsgegenständen, sondern an der ganzen Erinnerungslandschaft. Zum Programm der Auszubildenden gehört es deshalb auch, im sogenannten Stammlager Auschwitz mitzuhelfen, das mitten im Ort Oswiecim liegt. Abflüsse freischaufeln, Laub fegen, herabgefallene Äste aus den Zäunen holen – und den Garten in der früheren Villa des Lagerkommandanten Höss auf Vordermann bringen.

Es geht um Urteilsfähigkeit, Selbstbewusstsein, Toleranz

Das sind für Robin, Shira, Johannes, Mert und die anderen mal ganz andere Sachen als die Metallbearbeitung oder die Lagerlogistik in ihren Werken in Braunschweig und Salzgitter, der VW-Sprech, die Vorschriften, die Meister, die Rituale nach Feierabend, die Gesprächsthemen, die sich oft um Fitnesstraining, Freundinnen und Freunde, Tattoos und süßen Shisha-Tabak drehen.

VW hat die Richtigen an diesen Ort geschickt, den du als ein Anderer verlässt. Lebenslustige, ernsthafte, verlässliche junge Leute, die schon ganz gut wissen, wo sie hier eigentlich sind. Man bewirbt sich im Werk um die Teilnahme, sie nehmen da nicht jeden. Bei einem Vorbereitungsseminar in Northeim spricht man den historischen Hintergrund und die wichtigsten Verhaltensregeln durch. Am Ende sagt jemand: „Ich freue mich auf Auschwitz“. Man zuckt zusammen, aber irgendwie ist dieser Satz auch richtig.

Seit den 1980er Jahren veranstaltet VW solche Ausbildungsseminare in Auschwitz, seit dieser Zeit wird auch die Internationale Jugendbegegnungsstätte dort entscheidend unterstützt. Heute reisen aus allen deutschen VW-Standorten jährlich fünf bis sechs Gruppen von rund
15 Azubis an, um dort auch gemeinsam mit polnischen Berufsschülern zu arbeiten.

Michelle, Auszubildende aus Braunschweig, verpackt Scheren aus dem Besitz von Ermordeten.
Michelle, Auszubildende aus Braunschweig, verpackt Scheren aus dem Besitz von Ermordeten. © Henning Noske

Ähnliche Programme gibt es nicht nur für Auszubildende, sondern auch für Betriebsräte und das Management.

„Diese Gedenkstättenarbeit“, weiß mit Ines Doberanzke die bei VW für das Projekt Verantwortliche, „erfüllt auch eine Qualifizierungsfunktion für den Betrieb.“ Ganz klar: Es fördert Urteilsfähigkeit, Selbstbewusstsein, Toleranz, Offenheit.

„VW nimmt seine Verantwortung für die Firmengeschichte, die deutsche Geschichte und für eine europäische Zukunft wahr“, heißt es in der Beschreibung der Ziele für die VW-Gedenkstättenarbeit. Und ausdrücklich ist dort auch erwähnt, wie wichtig gerade heute ein aktives gesellschaftliches Engagement „gegen den stärker werdenden Antisemitismus, Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit in Deutschland und Europa“ ist.

Allein schon aufgrund der aktuellen politischen Ereignisse müsse die Geschichte der NS-Zeit auch wieder verstärkt auf die Agenda der Schulen rücken, sagt Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz Komitee in Berlin.

In Auschwitz bei den Azubi-Projekten gelingt es dem Schriftsteller und Exekutiv-Vizepräsidenten des Komitees auch persönlich, die jungen Erwachsenen mit dem bis heute im Kern nicht fassbaren Geschehen zu konfrontieren, ihnen ergreifende Geschichten dazu zu erzählen, eindrucksvolle Zeugen und Zeugnisse zu zeigen, sie jedoch auch die Erinnerungslandschaften selbstständig und auf für jeden ganz eigene Weise erkunden zu lassen.