Braunschweig. Jeder Dritte leidet an einer psychischen Erkrankung. Für Betroffene wird es auf dem Arbeitsmarkt immer schwieriger.

Burnout – ausgebrannt. Immer mehr Menschen können aus psychischen Gründen nicht mehr mithalten. Psychische Erkrankungen gehören zu den Hauptgründen für Arbeitsunfähigkeit.

Doch das bedeutet nicht, dass die Zahl der Menschen mit psychischen Problemen steigt. Nur fallen immer mehr Betroffene unter dem Druck der digitalen Arbeitswelt durch das Raster, sagt die Psychologin Beate Muschalla, an der Technischen Universität Braunschweig Professorin für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Diagnostik. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte sind arbeitsbezogene psychische Erkrankungen und Arbeits(un)fähigkeit.

Frau Professorin Muschalla, wie erklären Sie sich den Anstieg der Arbeitsunfähigkeiten aus psychischen Gründen?

Ich vergleiche gern einen Gutshof um 1900 mit der modernen Arbeitswelt. Ein Knecht leidet an einer Schizophrenie, er verhält sich ein bisschen komisch, brabbelt vor sich hin, aber an der Heuernte kann er sich trotzdem beteiligen. Vielleicht macht er es nicht so ordentlich wie andere, doch erledigt er seine Arbeit.

Kann derselbe Mensch jedoch einen Kran führen, also seine Aufmerksamkeit dauerhaft fokussieren und die richtigen Knöpfe drücken? Das ist schwierig. Dieser Wechsel in den Arbeitsanforderungen hat dazu geführt, dass ein Prozent der Menschen arbeitsunfähig wurde: Von denen, die unter einer psychotischen Erkrankung wie einer Schizophrenie leiden, sind weniger als 20 Prozent auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt.

Seit 2007 beobachten wir aber einen weiteren prägnanten Anstieg der Arbeitsunfähigkeit aus psychischen Gründen. Wir haben geschaut, warum: Der Computer hat ziemlich zügig Einzug in alle Lebensbereiche gehalten. Jung und dynamisch zu sein, wurde zum Trend. Plötzlich wurden junge Leute eingestellt und den Älteren vorgesetzt. In den Rehabilitationskliniken traf ich viele Patienten, die 20 Jahre in einer Firma gearbeitet und viel geleistet hatten, aber bei dieser Fokussierung auf Schnelligkeit nicht mithalten konnten.

Es trifft ja nicht nur ältere Berufstätige…

Ob im Studium oder in der Berufswelt – überall dominiert das Controlling. Alles wird gezählt und kontrolliert, standardisiert und normiert. Ein Mitarbeiter an der Kasse wird danach bewertet, wie viel Ware er pro Minute über das Band zieht.

Wer eine robuste Psyche hat, hält das aus. Aber Menschen, die zum Beispiel leicht depressiv oder ängstlich sind, können in Schwierigkeiten geraten. Und wenn sie gescholten werden, dass sie nicht in die Norm passen, wird es nicht besser. Dahinter steht auch die Frage: Wie viel Wachstum brauchen wir? Brauchen wir diese ausgeprägte Orientierung an Wirtschaftlichkeit und stetiger Steigerung der Effizienz?

Menschen mit psychischen Erkrankungen sind im digitalen Arbeitsalltag also besonders gefährdet?

Psychische Erkrankungen sind eine Volkskrankheit wie Bluthochdruck. Es gab sie schon immer und wird sie immer geben.

Nur waren sie in der Vergangenheit ein Tabuthema und wurden nicht als krankheitswertiges Phänomen benannt.

Nach europaweiten epidemiologischen Untersuchungen leiden daran rund 30 Prozent aller Menschen. Es handelt sich um chronische Erkrankungen, die meist lebenslang bestehen.

Am häufigsten sind Angsterkrankungen, Depressionen und Suchterkrankungen. Betroffene haben Probleme in der Lebensbewältigung – das gilt besonders in Lebensbereichen mit wenig Toleranz für Normabweichungen. Dazu gehört der Arbeitsplatz.

Wenn die psychisch nicht so stabilen Menschen unter den aktuellen Arbeitsanforderungen schlapp machen, droht jeder Dritte arbeitsunfähig zu werden. Kann und will sich die Gesellschaft das leisten?

Wie können Unternehmen darauf reagieren?

Unternehmen sollten frühzeitig entgegenwirken und Führungskräfte Gesprächsbereitschaft signalisieren. Wichtig wäre eine fähigkeitsorientierte Aufgabenzuweisung.

Leidet ein Mitarbeiter unter einer sozialen Angststörung, muss ich ihn vielleicht nicht zwingen, Vorträge zu halten. Im Büro dagegen erfüllt er ohne Probleme die Leistungsanforderungen.

Dazu aber gehört Offenheit und Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten. Auch der Mitarbeiter mit der chronischen Erkrankung oder Beeinträchtigung muss Anstrengungsbereitschaft zeigen.

Er kann sich aktiv mit Vorschlägen einbringen, welche Aufgaben er machen und dann gegebenenfalls auch von anderen Kollegen übernehmen kann, wenn diese wiederum seine früheren Aufgaben übernehmen.

Was ist ein guter Arbeitsplatz?

Das lässt sich nicht verallgemeinern. Führungskräften würde ich raten, zu schauen, wie die Mitarbeiter gestrickt sind. Jeder Mensch hat unterschiedliche Lern- und Leistungsgrenzen. Niemand ist in allen Bereichen 100-prozentig.

An Arbeitsplätzen gibt es naturgemäß eine Reihe von Faktoren, die Ängste bei Gesunden und vor allem bei Menschen mit psychischen Erkrankungen forcieren. Solche Bedrohungsfaktoren sind zum Beispiel Rivalitäten und Rangkämpfe unter Kollegen, sanktionierende und überwachende Vorgesetzte, Mitarbeiter-Ranking, Computer-Monitoring von Mitarbeitern und die Ungewissheit, was an betrieblichen Neuerungen auf sie zukommen mag.

Es gibt Statistiken darüber, welche Betriebsarten die höchsten Arbeitsunfähigkeitsraten aufweisen. Betriebe mit einer hohen Rate sind aber nicht die schlechteren – denn die Zahl deutet eher darauf hin, dass sie tolerieren, dass chronisch kranke Mitarbeiter auch mal ausfallen.

Wenn der öffentliche Dienst einen hohen Krankenstand aufweist, sollte er dafür nicht gescholten werden. Denn was machen manche Wirtschaftsunternehmen? Sie schließen Kurzzeitverträge ab, und nur die psychisch hochleistungsfähigen Mitarbeiter werden weiterbeschäftigt. Die anderen werden aussortiert.

Man muss also schon kritisch hinschauen, warum der Krankenstand in einem Betrieb hoch oder niedrig ist.

Natürlich gibt es auch Sachzwänge. Ein kleines mittelständisches Unternehmen kann sich einen dauerkranken Mitarbeiter womöglich nicht leisten und hat vielleicht auch keine Möglichkeit, den Mitarbeiter zur Wiedereingliederung an einen Arbeitsplatz zu versetzen, an dem er die Leistung erbringen kann.

Wenn jeder Dritte unter psychischen Problemen leidet – wie können sich Betroffene selbst schützen und ihr (Berufs-)Leben gut bewältigen?

Es gibt wirkungsvolle Behandlungskonzepte. Manchmal reichen kleine Interventionen wie regelmäßiger Sport und eine strukturierte Wochenplanung, um gut durch den Alltag zu kommen.

Wichtig ist das Gespür für sich selbst: Was für ein Mensch bin ich, welche Bedürfnisse habe ich? Das innere Selbstmanagement ist heute vielleicht noch entscheidender als früher. Die Menschen müssen die Kompetenz entwickeln – oder wiedererlangen – zu erkennen: Welches Level passt zu mir?

Ist jemand zum Beispiel leistungsorientiert, ist die Frage: Macht er es nur mit, um nicht abgehängt zu werden, oder will er sich weiterentwickeln – was etwas Gesundes ist? Entscheidet sich eine Studentin aus eigenem Interesse zum Auslandssemester oder nur der Norm wegen, weil es so viele machen?

Deutliche Anzeichen, dass eine Grenze erreicht ist, können dauerhafte mehrwöchig anhaltende Schlafstörungen, Verspannungen, Bauchgrummeln oder Ängstlichkeit sein.

Betroffene sollten darüber mit ihrem Hausarzt sprechen. Wenn es gelingt, ein gutes Management für sich selbst zu finden, ist viel gewonnen. Das kann auch bedeuten: Ich bleib auf meiner beruflichen Position, und das ist okay.

Kann der Mensch denn raus aus seiner Haut?

Das kommt sehr auf das Grundmuster der Menschen an. Grundwerte wie Arbeit, Pflichterfüllung oder Familie werden zwischen dem 5. und 15. Lebensjahr erlernt und sind meistens lebensprägend.

Dem einen geht es zum Beispiel um Leistung, Status und Anerkennung und er studiert nach dem Abitur Betriebswirtschaft, während ein anderer Sicherheit im öffentlichen Dienst sucht.

In der Reha sehen wir sowohl den Porschefahrer als auch die Sachbearbeiterin im öffentlichen Dienst. Vielleicht hat sie wegen einer lebenslangen Sorgenangst Sicherheit gesucht, während der junge Mann im Porsche wegen manisch-depressiver Züge zu risikoreich investiert hat und gescheitert ist.

Das heißt nicht, dass Porschefahren oder Sachbearbeitung krank machen, sondern schlicht, dass verschiedene Menschen von psychischen Beschwerden betroffen sind und Probleme in der Lebensbewältigung haben können.

Eine wichtige Aufgabe der Therapeuten und Ärzte ist es zu unterscheiden, ob jemand psychisch erkrankt ist oder Lebensprobleme hat.

Gesunde, die in einer schwierigen Lebenssituation leiden, sollten nicht mit einer Psychotherapie belegt werden, sondern gesagt bekommen, dass sie gesund sind.

Work-Life-Balance ist zum Schlagwort geworden. Wie kann man Ausgleich finden?

Freizeit als Wert kommt wieder stärker zum Tragen. Es gibt viele Möglichkeiten, jeder kann alles machen. Braucht man aber auch noch Freizeitstress?

Viele Menschen sind sehr leistungsorientiert. Die Konkurrenz ist groß. Für die Studentin muss es ein 1,0-Examen sein, dazu kommt ein Hiwi-Job und in der Freizeit möglichst noch ein Ehrenamt.

Doch bleibt die Frage: Soll die Freizeit einen Zweck und Nutzen erfüllen oder kann man einfach abhängen?

Ich höre von Menschen, dass sie ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie nichts tun. Es braucht Selbstbewusstsein, seine Freizeit nach den eigenen Bedürfnissen zu gestalten und für sich selbst zu entscheiden, ob man am Wochenende E-Mails checken will oder nicht oder wie viele Freunde man tatsächlich braucht.

Und kann es nicht auch mal okay sein, beim Warten auf den Bus 20 Minuten lang einfach nur in die Landschaft zu gucken?