Osterode. Frauenpower im Harzer Handwerk: Erstmals lernt bei der Dachdeckerei Beckert in Osterode eine Frau. So sieht der Alltag von Denise Weber aus.

„Das merkt man schnell, ob es passt und ob jemand mit den Anforderungen zurechtkommt oder nicht“, sagt Sabine Beckert. Sie ist Chefin des Osteroder Dachdeckerbetriebs Beckert. Sie weiß, wovon sie spricht, beschäftigt sie doch 14 Leute, Dachdecker, Zimmerer und Klempner. In der traditionell reinen Männerdomäne will in ihrem Betrieb erstmals auch eine Auszubildende Fuß fassen. Und es sieht gut aus, es scheint zu passen.

Von der Praktikantin zur Kollegin in Osterode

Denise Weber aus Osterode Dreilinden ist in der Kluft der Dachdecker von der Baustelle direkt zum Gespräch gekommen, die warme Wollmütze noch auf dem Kopf. Draußen ist Schietwetter, der Aufenthalt im Trockenen vielleicht auch eine willkommene kurze Auszeit vom Tagewerk. Die Frage drängt sich auf: Wie ist sie eigentlich zum Bauhandwerk gekommen?

Technik und Werken, so erzählt Denise freimütig, war eines ihrer Favorit Fächer an der OBS Badenhausen: „Ich habe schnell gemerkt, dass mir Handwerkliches Spaß macht“, erzählt die heute 18-Jährige. Da blieb sie dran, hat nach dem Schulabschluss bei Schrader Holzbau in Förste ein dreiwöchiges Praktikum absolviert und dabei den Beruf des Dachdeckers für sich entdeckt. Es folgte ein weiteres Praktikum, diesmal gezielt bei der Dachdeckerei Beckert. Das war im Sommer. Sie ging auf Nummer sicher und startete ein weiteres im Herbst: „Ich wollte einfach mal ausprobieren, wie es sich in der kalten Jahreszeit anfühlt.“ Jetzt hat sie schon ein Lehrjahr hinter sich und steht mitten im Beruf.

Beim Zuschneiden eines Blechs: Inhaberin Sabine Beckert, Denise Weber und Meister Nils Kruschwitz. 
Beim Zuschneiden eines Blechs: Inhaberin Sabine Beckert, Denise Weber und Meister Nils Kruschwitz.  © FMN | Michael Paetzold

Fachkräftemangel zeigt sich auch im Handwerk im Südharz

Drei Jahre dauert die Ausbildung, die man mit Abitur oder vorheriger Berufsausbildung auf zwei Jahre verringern kann. Ausbildungsorte im dualen System sind der Betrieb und im Kreis Göttingen die Berufsschule in Northeim. Sabine Beckert freut sich über die junge Mitarbeiterin, die ihren Weg engagiert beschritten hat und nach eigenen Aussagen dabei bleiben will. Denn wie überall im Handwerk plagen auch die Dachdecker Nachwuchssorgen.

Offene Lehrstellen, fehlende Fachkräfte: Immer weniger Jugendliche entscheiden sich nach der Schule für eine solche Ausbildung. Der Trend bereitet vielen Betrieben seit Jahren Probleme. Es sind der demografische Wandel, die Präferenz auf Abitur und ein Studium, die Konkurrenz durch besser bezahlende Industrie und schließlich das negative Image, das dem Bauhandwerk noch immer anhaftet. Zu Unrecht, meint die Auszubildende. Der Landesinnungsverband Südniedersachsen/Bremen ist mit einer positiven Bilanz 2023 Ausreißer in der bundesweit negativen Entwicklung, sagt Frank Grewe, Obermeister der Dachdeckerinnung Südniedersachsen. „Wenn in den kommenden Jahren die älteren Mitarbeiter in Rente gehen, bekommen auch wir echte Probleme. Denn die Ausbildungszahlen werden weiter zurückgehen“, prophezeit er.

Auszubildende sind in Osterode lange Zeit nicht vorhanden

Eine Zeit lang hatte auch die Firma Beckert gar keine Auszubildenden, es fehlten passende Bewerber. „Sicher: Das ist Draußenarbeit. Das ist nicht was für jeden. Da muss man überzeugt davon sein, sonst macht es keinen Sinn“, weiß Sabine Beckert. Denise ist überzeugt: „Mir macht es großen Spaß. Die Arbeit ist vielseitig, und ich kann viel für zu Hause mitnehmen, Kenntnisse, die für mich wertvoll sind.“

Und tatsächlich: Eintönig ist der Job nicht, ob Balkonsanierung, Bauwerksabdichtung, Dämmung, der Einbau von Dachfenstern, die Fertigung von Dachrinnen und Fallrohren in der betriebseigenen Bauklempnerei, ob Industriedächer oder Dächer an Privathäusern, Schornsteinsanierung und Solaranlagen. All das und mehr verbirgt sich hinter dem so traditionell anmutenden Dachdeckerhandwerk, das so alt ist, wie es witterungsgeschützte Bauwerke gibt. In unserem Kulturraum ist es seit dem 13. Jahrhundert unter den Bezeichnungen Ziegler, Steindecker, Leiendecker oder Schieferdecker nachweisbar.

Perspektiven im Dachdeckerhandwerk

Die Ausbildungsvergütung im Dachdeckerhandwerk zählt zu den höchsten im gesamten Handwerk. Das Ausbildungsgehalt beläuft sich im ersten Lehrjahr auf 860 Euro, im zweiten auf 1040 und im dritten auf 1320 Euro. Die Ausbildung dauert drei Jahre. Es gibt die Möglichkeit des Trialen Studiums mit Erwerb des Meisterbriefs und Studienabschluss. Bei den Ausbildungsschwerpunkten kann zwischen Dachdeckungstechnik, Abdichtungstechnik, Außenwandbekleidungstechnik, Energietechnik an Dach und oder Reetdach gewählt werden.

Weiterbildungsmöglichkeiten bestehen unter anderem als Betriebswirt im Handwerk, Fachberater im Außendienst, Fachleiter für Dach-, Wand- und Abdichtungstechnik, Manager im Dachdeckerhandwerk, Kolonnenführer, Techniker mit Fachrichtung Bautechnik, Gebäude- und Energieberater, Qualifizierung zum Bauführer.

Immer wieder gibt es für die Mitarbeitenden zudem Herausforderungen, wie gerade die Arbeiten auf St. Johannis in Osterode. Die katholische Pfarrkirche wird neu gedeckt. Nicht die Höhe des Gebäudes flößt den Handwerkern Respekt ein, die sind sie gewöhnt. Vielmehr ist die extreme Dachneigung die Herausforderung. Herausfordernd vom Arbeitsumfang ist derzeit auch die Baustelle des neuen Osteroder Badetempels Aloha. Hier sorgt das Unternehmen für den Schieferbehang an der Fassade.

Für die junge Dachdeckerin ist das inzwischen kein Problem mehr. Das war allerdings nicht immer so: „Als ich das erste Mal auf einem Dach so richtig arbeiten musste, war das schon ein komisches Gefühl“, erinnert sie sich. Als Praktikantin durfte sie über das Gerüst nämlich nicht hinaus. Inzwischen fällt alles leichter, der Umgang mit der Arbeitshöhe und den Unbill der Witterung, mit Kälte und Hitze, Regen, Sonne und manchmal auch Schnee. „Ja, die Arbeit ist schwer“, räumt Sabine Beckert ein, aber der technische Fortschritt mache heute vieles leichter. „Schwere Lasten werden inzwischen gekrant“, werden also mit dem Kran auf die Arbeitsstelle gewuchtet, ergänzt sie.

Arbeiten auf dem steilen Kirchendach von St. Johannis. 
Arbeiten auf dem steilen Kirchendach von St. Johannis.  © privat | Dachdeckerei Beckert

Frauen noch Exoten im Dachdeckerhandwerk

Noch sind Frauen im Dachdeckerhandwerk Exoten, auch wenn die Zahl der weiblichen Azubis laut DDH „Das Dachdeckerhandwerk“ gestiegen sind. 2022 wurden 212 junge Frauen im Dachdeckerhandwerk ausgebildet, 2020 waren es 147. Die Frauen-Quote lag damit bei 2,4 Prozent und pendelt sich aktuell bei rund drei Prozent ein. Im Kreis Göttingen und Northeim sind unter den insgesamt 30 Auszubildenden drei Mädchen. Da ist also noch viel Luft nach oben. Dabei sind Bauhandwerkerinnen hochwillkommen, so der Obermeister, der sie in den höchsten Tönen lobt. „Bei den Gesellenprüfungen schneiden sie regelmäßig gut ab. Frauen zeigen sich engagierter, als männliche Bewerber, machen sich im Vorfeld der Ausbildung viele Gedanken über den Beruf und wollen den dann auch.“

Und wie läuft es zwischen der jungen Auszubildenden und den vielen männlichen Kollegen unterschiedlicher Generationen? Gut, meint Denise. Auf die einzelnen Charaktere einstellen müsse sie sich schon, aber es herrsche ein freundschaftlicher Umgang zwischen den Kollegen. „Natürlich wird in erster Linie ernst gearbeitet. Aber man kann sich auch gut unterhalten und Spaß haben: Da sind keine Spießer auf dem Dach!“ Die Mannschaft komme gut mit ihr zurecht, so Dachdeckermeister Nils Kruschwitz, der das Unternehmen zusammen mit Sabine Beckert führt: „Es ist ein Umgang auf Augenhöhe, da wird nicht mit zweierlei Maß gemessen. Mit den heutigen Hilfsmitteln kann sie alle Arbeiten erledigen.“ Auch Obermeister Grewe hat gute Erfahrungen mit dem weiblichen Nachwuchs. „Das klappt problemlos. Und was besonders schwere Arbeit angeht, nehmen die Männer auch Rücksicht. Es gibt daneben viel Handwerkliches zu erledigen, das Feingefühl voraussetzt.“

Gute Zukunftsaussichten im Beruf in Osterode

Denise Weber will auf jeden Fall dranbleiben, erstmal Gesellin werden und dann den langen Weg zur Meisterin einschlagen. Die Chancen, im Ausbildungsbetrieb zu bleiben, stehen gut. Sabine Beckert: „Wir übernehmen unsere Auszubildenden gern.“ Man sei derzeit personell zwar gut aufgestellt, aber Fluktuation durch Wechsel in den Ruhestand gebe es immer, und Handwerksleistungen der Dachdecker seien stark nachgefragt.

Draußen schüttet es noch immer wie aus Eimern. Dachdeckermeister Nils Kruschwitz trifft ein und beendet den Arbeitstag vorzeitig: „Es hat heute keinen Zweck mehr, wir machen Schluss“, entlässt er die Auszubildende Freitagmittag in das Wochenende. Und etwas freie Zeit hat sich wohl jeder und jede seiner Mannschaft redlich verdient.

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