Walkenried. Bilanz im Harz: Ist die Mobilitätswende gescheitert? So bewertet der Harzer Verkehrsexperte Michael Reinboth die Probleme bei der Bahn.

Eine Anmerkung vorab. In diesem längsten Streik der Bahngeschichte in Deutschland gibt es durchaus Lichtblicke. So fuhren die Züge zwischen Northeim und Nordhausen sowie Braunschweig und Herzberg zwar weniger häufig und leider auch nicht in Tagesrandlagen, aber sie fuhren. Allen, die dies ermöglichen, zollen wir unseren Respekt und unsere Anerkennung. Aber das ändert nichts daran, dass wir uns mehr als ernsthafte Gedanken über die Zukunft dieses Verkehrsträgers machen müssen.

Es ist noch nicht sehr lange her, da galt die Bahn in Deutschland als ein Hoffnungsträger der Mobilitätswende, als ein wichtiger Bestandteil des Kampfes gegen den Klimawandel. Pläne für den „Deutschland-Takt“ wurden geschmiedet, von einer signifikanten Steigerung der Fahrgastzahlen und der Gütermengen auf der Schiene gesprochen, Investitionen in Milliardenhöhe geplant. Auf Ebene der Länder wurden, in einigen jedenfalls, Pläne zur Reaktivierung von Bahnstrecken gemacht oder die Strecken hinsichtlich ihrer Potenziale untersucht.

Diese Aufbruchstimmung, sie währte nur kurz und fällt nun in sich zusammen. Wir, die wir seit Jahrzehnten für dieses einmalige Verkehrssystem streiten, können am Ende froh sein, wenn es gelingt, wenigstens den Status quo zu retten. Das wird schon schwierig genug. Von Aufbruch in ein neues Bahnzeitalter können wir nur noch in Büchern nachlesen, welche die Zeit von 1830 bis 1890 behandeln. Oder wir müssen Zeitschriften aus der Schweiz oder Österreich abonnieren.

Für den sich abzeichnenden Niedergang sind vier Dinge ursächlich:

  1. Die jahrzehntelange Vernachlässigung der Infrastruktur durch fehlende Investitionen macht sich nun immer stärker bemerkbar. Der Verfall des Schienennetzes beschleunigt sich exponentiell. Das hat Auswirkungen auf die Pünktlichkeit und auf die Zuverlässigkeit und bringt der Bahn vorwiegend höhnische bis sarkastische Kommentare ein. Obschon sie selbst an dieser Entwicklung zwar kräftig mitgewirkt hat, aber doch nicht allein schuldig ist. Der Ausbau der Infrastruktur des bundeseigenen Schienennetzes war und ist Aufgabe des Bundes, der er in viel zu geringem Umfang nachgekommen ist. Und jetzt, 2024, werden alle Ansätze für ein entsprechendes Gegensteuern schon wieder abgewürgt. Es steht Geld, viel Geld, für viele Zwecke zur Verfügung – für den Ausbau des Schienennetzes aber eben nicht. Was an dieser Politik noch „grün“ ist, vermag mir bis dato niemand zu erklären. Durch das Verschleppen von Modernisierungen gerät die Bahn nunmehr auch in erhebliche Turbulenzen dadurch, dass sie völlig veraltete Stellwerkstechnik am Leben halten und vor allem hierfür Personal vorhalten muss, welches entweder nicht da ist oder wegen – vorgeblicher oder tatsächlicher – Überlastung aussteigt. Immer mehr Stellwerke können nicht besetzt werden, mit der fatalen Folge, dass sogar fahrbereite Züge, die es ja noch gibt, ausfallen müssen. Drähte reißen, Weichen und Signale geben ihren Geist auf, Reparaturen dauern mitunter mehrere Tage.
  2. Das Management der Bahn hat sich über Jahre hinweg, zu Zeiten von Dürr und Mehdorn vor allem, an weltumspannenden Logistikplänen berauscht und hierbei gnadenlos das Kerngeschäft in Deutschland verkommen lassen. „MORA C“ im Güterverkehr, die Abschaffung des InterRegio im Personenverkehr stehen für eine fatale Fehlentwicklung, deren Protagonisten von der Politik so lange hochgejubelt und bewundert wurden, bis ihre katastrophalen Fehlleistungen allzu offensichtlich wurden. Da war es aber für vieles schon zu spät. Für das Arriva-Abenteuer wurden Unsummen zum Fenster des Bahntowers hinausgeworfen. Das aktuelle Management delektiert sich an angesichts der desolaten Lage der Infrastruktur völlig nebensächlichen „Zielen“ und kassiert dafür Prämien, anstatt für endlose Verspätungen oder sinkende Marktanteile geradestehen zu müssen. In diesem, aber eben auch nur in diesem, Punkt muss man der GDL zustimmen. Die Deutsche Bahn ist in den oberen Etagen zu einem Saftladen verkommen, in dem die tatsächlichen Probleme gar nicht mehr wahrgenommen oder abgestritten werden. Aber auch hier trifft die Politik ein gerütteltes Maß an Mitschuld, denn der unter anderem mit Bundespolitikern besetzte Aufsichtsrat segnet schließlich sowohl Personalia als auch unsinnige Zielvereinbarungen ab.
  3. Geiz ist geil“. Die Aufgabenträger im Nahverkehr schreiben am laufenden Band Netze und Teilnetze aus, würfeln sie neu zusammen, machen Übergangsverträge und vergeben am Ende die Leistung an Billiganbieter, die das Blaue vom Himmel versprechen. Leuchtendes Beispiel in Niedersachsen ist „DB Start Mitte“. Bei diesem Unternehmen täte man, wenn man den berühmten Vergleich mit dem „Saftladen“ zöge, letzterem bitter Unrecht. Da klappt gar nichts. Aber billig waren sie halt. Für ein so langfristiges und kapitalträchtiges Ding wie einen Vertrag zur Durchführung von SPNV-Leistungen sind die „Geiz ist geil“-Denke und ständig neue Überlegungen zum Netzzuschnitt Gift, weil nur noch das Nötigste investiert wird und Personal kaum zu gewinnen ist, wenn man diesem mitteilt, dass das alles nur für eine bestimmte Anzahl von Jahren gilt. Die Leute wollen auch Planungssicherheit für sich und ihre Familien und schauen sich dann woanders um, wobei ihnen die Demografie einerseits und der zunehmende Widerstand gegen Neubewohner hilft. Wir leben in einem Arbeitnehmermarkt, darauf sollte man sich bei kleinem auch mal ausschreibungstechnisch einstellen und nicht ständig in den Netzen herumfummeln. Die Anzahl der Fehlschläge bei der Firmenauswahl nimmt immer mehr zu: Abellio insolvent, die Eurobahn unzuverlässig, DB Start Mitte die blanke Katastrophe, einstige Hoffnungsträger wie Metronom oder Nordwestbahn bestenfalls noch Durchschnitt oder sogar darunter. Leuchtende Ausnahmen sind, wohl kaum zufällig, vorrangig lokal verankert, also bodenständig und solide.
  4. Über Jahrzehnte verweigerte Investitionen und ein schlechter Vorstand rufen schon genug Elend hervor. Aber zu allem Unglück hat die Deutsche Bahn nun auch noch das Pech, dass sich, fast einmalig in Deutschland, zwei Gewerkschaften auf ihrem Rücken gnadenlos streiten und, um ihre jeweilige Klientel bei Laune zu halten, ständig mit Arbeitskämpfen drohen oder diese auch durchführen. Das fatale Urteil des Bundesarbeitsgerichts, wonach es in einem Betrieb ohne weiteres mehr als einen Tarifvertrag geben kann, war der Anfang vom Ende einer zuverlässig funktionierenden Eisenbahn in diesem Land. Seither herrscht Krieg, geht namentlich die GDL immer rücksichtsloser auf die Kunden los, sinkt die Stimmung in immer mehr Dienststellen auf den Nullpunkt, steht nicht mehr der Bahnbetrieb im Mittelpunkt, sondern das Aushebeln der Konkurrenzgewerkschaft mit allen Mitteln. Dass die ganze Zeche die Kunden zahlen und dies zunehmend weniger solcher kostbaren Menschen tun wollen, ficht wackere GDL-Gewerkschaftsfunktionäre nicht an. Sie sind derart in ihrem Hass gegenüber dem Management und ihrer Abneigung gegen Mitglieder der anderen Gewerkschaft verfangen, dass sie die zunehmend lauter werdenden Warnsignale gar nicht mehr wahrnehmen.

Warnsignale: Ist die Verkehrswende und das System Eisenbahn in Gefahr?

Diese Warnsignale verheißen überhaupt nichts Gutes für das System Eisenbahn. Die Verkehrswende sei in Gefahr, das mag noch angehen – bis jetzt ist sie ja auch politisch noch gar nicht ernsthaft eingeleitet worden. Soeben wurden ja schon mal 13 Milliarden eigentlich zugesicherter Sanierungsmittel wieder gestrichen. Es geht viel tiefer an die Substanz. Schon wird darüber gesprochen, wie viele Bundesbürgerinnen und Bundesbürger überhaupt vom GDL-Streik betroffen sind – keine 20 Prozent, liest man, wozu also die Aufregung? Das Verkehrsmittel Bahn ist doch nur für eine Minderheit überhaupt relevant. Und die Zahl derer, die sich nun wieder ein Auto kaufen, kaufen müssen, weil diese Bahn völlig unzuverlässig ist und nun auch noch kaputt gestreikt wird, steigt auch. Ein E-Auto kaufen sich da übrigens die wenigsten, weil sie es sich gar nicht leisten können. Für die mangels Bahnalternative notgedrungen wieder individuell zurückzulegende Fahrt zur Arbeit tut es auch ein gebrauchter Benziner. Aber Umweltaspekte sind ja jetzt wirklich kein Argument in einem Arbeitskampf auf Biegen und Brechen. Jedenfalls nicht für Funktionäre – für andere schon. Und die haken die Bahn als umweltfreundliche Alternative zunehmend ab.

„Ich würde ja gerne – aber Du siehst doch sicher ein, dass es keinen Sinn macht. Die Bahn fährt entweder unpünktlich oder fällt wegen Streiks aus“: Das höre ich in letzter Zeit immer häufiger und kann nicht einmal widersprechen. Während Kunden im Personenverkehr aber noch eine gewisse Geduld aufbringen und so flexibel sind, dass sie, wenn es denn mal funktioniert und das sogar über einen längeren Zeitraum und Herr Weselsky endlich in Rente ist, wiederkommen, trifft dies auf die andere, mindestens ebenso wichtige Kundengruppe nicht zu, die Kunden des Güterverkehrs. Von der Vorstellung „mehr Güter auf die Schiene“ sollten wir uns verabschieden, solange es nicht gelingt, GDL und EVG und ein Stück weit auch das Bahnmanagement zur Besinnung zu bringen. Hallo! Da verabschieden sich gerade jede Menge Versender von der Bahn! Schon gemerkt? Da kann DB Cargo so manchen Rangierbahnhof und viele Zugfahrten bald aufgeben, und die Umstrukturierung trifft dann wohl kaum das obere Management…

Kein Zweifel: Geht es mit den Streiks der GDL so weiter, mag am Ende ein auskömmliches Ergebnis für die Beschäftigten da sein – nur Arbeit für sie, die gibt es zunehmend weniger, weil immer mehr Menschen nicht dauernd in „Notfahrpläne“ hineinschauen wollen und immer mehr Betriebe ihre Logistik auf funktionierende, also Lkw-Räder umstellen müssen. Und hat diese Kampfgruppe erst einmal den Fuß in der Tür bei der Infrastruktur, muss man kein Prophet sein, um das endgültige Ende einer halbwegs funktionierenden Eisenbahn vorauszusehen. In einigen Jahren stehen zwei Gewerkschaften auf dem Trümmerhaufen ihres Arbeitgebers.

Ein ICE der Deutschen Bahn mit verlassenem Lokführerplatz steht Hauptbahnhof Hannover. Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) hatte zu einem weiteren mehrtägigen Streik bei der Deutschen Bahn aufgerufen.
Ein ICE der Deutschen Bahn mit verlassenem Lokführerplatz steht Hauptbahnhof Hannover. Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) hatte zu einem weiteren mehrtägigen Streik bei der Deutschen Bahn aufgerufen. © DPA Images | Julian Stratenschulte

Auch wenn jetzt mal wieder fünf Wochen Pause herrscht - Die Deutsche Bahn wird gerade in die Bedeutungslosigkeit gestreikt. Und mit ihr das gesamte System des öffentlichen Nahverkehrs. In England und Wales gab es das vor Jahrzehnten auch schon mal. Da haben die Bergleute im Bewusstsein ihrer Unentbehrlichkeit einen Streik auf Biegen und Brechen inszeniert. Am Ende wurden 80 Prozent der Bergwerke geschlossen und der Bergleute entlassen. Gut, Steinkohle will ja heute außer der AfD keiner mehr wirklich, aber die Eisenbahn?

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