Wolfsburg. Ralph Böse, Landesvorsitzender des Berufsschullehrerverbands, ist für Abschlussprüfungen. „Sonst bleibt das ganze Leben ein Makel.“

Seit einem Jahr herrscht Ausnahmezustand an den Schulen. Ralph Böse, Lehrer an den Berufsbildenden Schulen 2 in Wolfsburg und Landesvorsitzender des Berufsschullehrerverbands, erklärt im Interview, warum manche Lehrer mit einem unsicheren Gefühl zur Schule gehen, dass bei der Digitalisierung dringender Handlungsbedarf besteht und was er vom Kultusministerium jetzt erwartet.

Herr Böse, die Osterferien gehen zu Ende. Was halten Sie davon, wie es am Montag mit den Schülerinnen und Schüler an den unterschiedlichen Schulen weitergeht?

Ich finde es richtig, dass in vielen Landesteilen die meisten Klassen weiterhin im Distanzlernen bleiben, um bei rasant steigenden Infektionszahlen nicht noch weitere Kontakte zu schaffen. Es ist in meinen Augen aber auch richtig, dass die Grund- und Förderschulen, Abschlussklassen und einige Bildungsgänge, in denen es pädagogisch besonders sinnvoll ist, weiterhin im Szenario B bleiben. Kultusminister Grant Hendrik Tonne hat ja klargestellt, dass es ab einer Inzidenz von 100 keinen flächendeckenden Präsenzunterricht geben soll. Insofern wird es nun in Niedersachsen nach den Osterferien einen Flickenteppich geben. In unserer Region ist ein Präsenzunterricht fast überall ausgeschlossen. Ich bin davon überzeugt, dass die Inzidenz auch in den angrenzenden Bereichen sehr schnell wieder über die Marke von 100 springen wird, da die jetzigen Zahlen durch die über Ostern deutlich geringere Testrate und aufgrund nicht gemeldeter Fälle nur vordergründig moderat ausgefallen sind.

Wäre eine landes- oder bundesweite Regelung für die Schulen nicht besser als ein solcher Flickenteppich?

Ich persönlich halte die inzidenzbasierte Maßnahmenliste, die seit Weihnachten gilt, grundsätzlich für gut und zielführend. Dennoch war unmittelbar vor den Osterferien absehbar, dass die Zahlen durch die Decke gehen würden. In dieser Situation hätte ich mir gewünscht, dass Herr Tonne sich dafür entschieden hätte, die Schulen in Niedersachsen vor Ostern landesweit geschlossen zu halten. Wenn die Zahlen bereits im Lockdown steigen, darf man nicht in den Schulen für zusätzliche Kontakte sorgen. Das ist kontraproduktiv, das ist eine reine Symbolpolitik und diese Maßnahme sollte nur dem Ruf nach Öffnungen Rechnung tragen. Als Politiker muss man sich aber auch einmal dem öffentlichen Druck stellen und sich für den sachlich besseren Weg entscheiden.

Ralph Böse ist seit 1999 Lehrer an den berufsbildenden Schulen 2 in Wolfsburg und unterrichtet Fahrzeugtechnik in Industrie- und Handwerksklassen. Seit 2018 ist Böse Landesvorsitzender des Berufsschullehrerverbands Niedersachsen (BLVN). Der 54-Jährige ist verheiratet, hat einen Sohn und wohnt in Wolfsburg.
Ralph Böse ist seit 1999 Lehrer an den berufsbildenden Schulen 2 in Wolfsburg und unterrichtet Fahrzeugtechnik in Industrie- und Handwerksklassen. Seit 2018 ist Böse Landesvorsitzender des Berufsschullehrerverbands Niedersachsen (BLVN). Der 54-Jährige ist verheiratet, hat einen Sohn und wohnt in Wolfsburg. © Privat

Ab welcher Inzidenz ist aus Ihrer Sicht die Öffnung der Schulen vertretbar?

Ich denke, dass der jetzt vorliegende inzidenzbasierte Maßnahmenkatalog des Kultusministeriums hier einen guten Rahmen bietet. Mit der dort genannten Inzidenz von unter 100 bin ich einverstanden.

Sind Sie in den vergangenen Wochen mit einem guten, sicheren Gefühl in die Schule gegangen? Oder hatten Sie Angst vor einer Ansteckung? Schließlich unterrichten Sie an der Berufsschule in Wolfsburg auch viele ältere oder schon erwachsene Schüler, die als deutlich ansteckender gelten als zum Beispiel Grundschulkinder.

Die Kolleginnen und Kollegen, die vor den Osterferien in Präsenz unterrichten mussten, berichteten mir von einem sehr unsicheren Gefühl. Allen war klar, dass die Zahlen stark steigen. Die Öffnung eine Woche vor Ostern wurde allgemein als sinnlos betrachtet – vor allem, da in dieser Woche ja auch nur jeweils die halbe Klasse vor Ort war. Da bereits absehbar war, dass es nach den Osterferien im Distanzunterricht weitergehen würde, gab es im Kollegium kein Verständnis für die Maßnahme des Kultusministeriums.

Wie ist die Impfquote der Lehrkräfte an der BBS 2 in Wolfsburg und allgemein an den Berufsbildenden Schulen?

Die Kolleginnen und Kollegen der berufsbildenden Schule haben noch kein Impfangebot bekommen. Bisher wurden lediglich die Lehrkräfte der Grundschulen und der Förderschulen mit einem Impfangebot bedacht. Alle anderen Lehrkräfte sind nach wie vor in der Prioritätsklasse 3 verortet und müssen weiter auf ein Impfangebot warten.

Die Schülerinnen und Schüler sind künftig verpflichtet, vor dem Unterricht zu Hause einen Corona-Schnelltest zu machen. Halten Sie diese Lösung für die sinnvollste?

Hier gibt es leider keinen Königsweg. Für die Selbsttests an Schulen oder zu Hause gibt es jeweils gute Argumente dafür und dagegen. In den Schulen gab es von Seiten der Kolleginnen und Kollegen große Vorbehalte gegen die Beaufsichtigung der Selbsttests der Schüler, da sie hier eine potenzielle Gesundheitsgefährdung für sich sahen. Insofern bin ich mit der jetzigen Regelung zufrieden.

Ralph Böse unterrichtet an den Berufsbildenden Schulen 2 in der Wolfsburger Kleiststraße. 
Ralph Böse unterrichtet an den Berufsbildenden Schulen 2 in der Wolfsburger Kleiststraße.  © regios24 | LARS LANDMANN

Wie oft sollten diese Tests pro Woche stattfinden?

Zweimal pro Woche für alle Lehrkräfte und für das gesamte Personal an Schulen sowie zweimal pro Woche für alle Schüler an vollzeitschulischen Bildungsgängen und im ersten Lehrjahr der Berufsschule mit zwei Schultagen sowie einmal pro Woche für alle übrigen Schüler der Berufsschule.

Und wie sollen die Lehrkräfte überprüfen, ob der Test auch wirklich gemacht wurde?

Ich persönlich plädiere für das Mitbringen und das Vorzeigen der Tests.

Ist aus Ihrer Sicht in den vergangenen Monaten genug dafür getan worden, Schüler und Lehrer an den Schulen vor einer Infektion zu schützen?

Ich habe bereits in der ersten Welle lange Zeit dafür kämpfen müssen, bis eine Maskenpflicht in den Schulen eingeführt wurde – da hätte ich mir ein schnelleres Vorgehen gewünscht. Ich fordere auch gemeinsam mit anderen Lehrkräfteverbänden und der Landeselternvertretung, dass Lüftungsanlagen für die Klassenräume angeschafft werden. Es gibt Studien, die zeigen, dass die Viruslast dadurch signifikant gesenkt werden kann. Ich hätte auch vor Ostern die Schulen geschlossen gehalten. Darüber hinaus kann ich auch nicht nachvollziehen, warum bisher nur die Grund- und Förderschullehrkräfte ein Impfangebot bekommen haben. Es ist in Ordnung, dass sie zuerst geimpft wurden. Ich hätte mir aber gewünscht, dass alle anderen Lehrkräfte unmittelbar danach ein Angebot bekommen hätten. Insbesondere bei den Lehrkräften an berufsbildenden Schulen ist es so, dass eine „Kohortenbildung“ praktisch unmöglich ist, da Berufsschullehrkräfte grundsätzlich in verschiedenen Ausbildungsberufen eingesetzt werden, da sie jahrgangsübergreifend unterrichten und in verschiedenen Bildungsgängen Unterricht geben. Falls sich also einmal eine Lehrkraft ansteckt, ohne es zu merken, trägt sie diese Infektion sofort durch die halbe Schule. Das halte ich für unverantwortlich.

Ein Jahr Corona: Wie hat das Virus das Schulleben verändert?

Grundsätzlich leidet das Schulklima durch Distanzunterricht. Es ist natürlich wesentlich angenehmer und auch deutlich effektiver, in Präsenz zu unterrichten. Dies sehen übrigens auch die Schülerinnen und Schüler so.

Welche Verbesserungen oder Veränderungen wünschen Sie sich? Wurde zum Beispiel beim Thema Digitalisierung genug getan?

Hier gibt es noch immer erheblichen Nachholbedarf. Die digitalen Angebote, die im Distanzunterricht den Schulbetrieb aufrecht erhalten haben, wurden in einem Kraftakt von den Lehrkräften aus dem Boden gestampft. Dies ging mit einem erheblichen Mehraufwand einher, da die Inhalte für den digitalen Unterricht aufbereitet werden mussten. Auch die entsprechenden Plattformen mussten erst einmal im Kollegium durch umfangreiche Fortbildungsmaßnahmen für die Kolleginnen und Kollegen so aufbereitet werden, dass alle damit zielführend umgehen konnten. Ganz allgemein wünsche ich mir eine deutlich bessere Internetanbindung der Schulen. Darüber hinaus muss auch der IT-Support insbesondere für so große Systeme wie die der berufsbildenden Schulen dringend verbessert werden. Und ich wünsche mir eine einheitlichere Nutzung von Unterrichtsplattformen und die Bereitstellung von Ressourcen seitens des Kultusministeriums für umfassende Lehrkräfte-Fortbildungen.

War die IT-Infrastruktur der Schulen auf eine solche Situation vorbereitet?

Nein. Oft brachen Videokonferenzen zusammen, was immer wieder zu Unmut bei Lehrern und Schülern führte. Darüber hinaus musste jede Schule für sich das Rad neu erfinden: Je nach Schule und Region arbeitet man mit IServ, mit It’s Learning, mit Moodle, mit der niedersächsischen Bildungscloud, mit Microsoft Teams oder mit anderen Unterrichtsplattformen. Diese Vielfalt kostet unglaublich viel Ressourcen, Zeit und Nerven. Es wäre hilfreich gewesen, wenn man sich in Niedersachsen auf eine gemeinsame Lösung hätte einigen können.

Wie sieht es mit der Ausstattung von Hardware aus?

Alle Lehrkräfte in Niedersachsen sollen mit einem digitalen Endgerät ausgestattet werden. Wann, das steht bisher allerdings noch immer nicht fest. Diese Maßnahme kommt auch deutlich zu spät. Ich bin davon überzeugt, dass es in der inzwischen dritten Coronawelle keine Lehrkraft mehr gibt, die nicht über ein privat beschafftes digitales Endgerät verfügt, womit der Distanzunterricht bewältigt wird. Anders geht es ja auch gar nicht. Wenn nun also alle Lehrkräfte zusätzlich noch einmal mit einem digitalen Endgerät ausgestattet werden sollen, muss dieses einen Mehrwert gegenüber den bereits privat beschafften Geräten bieten, ansonsten ist das Ganze sinnlos und nur ein Konjunkturpaket für den Computerhandel.

Bekommen Lehrkräfte, die wenig technikaffin sind, in der Pandemie genug Unterstützung?

Es hat große Anstrengungen gegeben, diesen Kolleginnen und Kollegen mit entsprechenden Fortbildungen zu helfen. Diese wurden allerdings fast immer – mit ganz wenigen Ausnahmen – von den jeweiligen Schulen selbst bereitgestellt. Hier muss man den IT-affinen Lehrkräften einmal ein ganz großes Kompliment aussprechen, die innerhalb kürzester Zeit mit sehr hohem persönlichem Engagement solche Fortbildungen auf die Beine gestellt haben. Aber auch für die Nutznießer dieser Fortbildungen bedeutet das einen hohen persönlichen Zeiteinsatz, um sich innerhalb sehr kurzer Zeit auf den Unterricht mit diesen neuen Medien umzustellen.

Haben alle Schüler die technischen Möglichkeiten für das Distanzlernen?

Nein, leider nicht. An einigen Orten fehlt es an einer entsprechend notwendigen Datenrate. Für Schüler, die über kein adäquates digitales Endgerät verfügen, gibt es von Seiten der Schule entsprechende Leihgeräte. Hier sind aber die Schüler gefordert, diese auch tatsächlich bei ihrer jeweiligen Schule einzufordern.

Ein Freund von mir ist Berufsschullehrer in Hamburg. Er erzählte mir, es gebe Schüler, die in der Corona-Pandemie abgetaucht und nicht mehr erreichbar sind. Haben Sie solche Erfahrungen auch gemacht? Wie schafft man es, die Schüler zu motivieren, am Ball zu bleiben?

Solche Schülerinnen und Schüler gibt es tatsächlich. Insbesondere dort, wo sie zu Hause kaum oder keine Unterstützung bekommen, ist deren Situation sehr schwierig. Insofern ist zum Beispiel die Berufseinstiegsschule im Szenario B weitergelaufen, weil wir dort ansonsten tatsächlich viele Schüler verloren hätten. Schüler mit schwierigen häuslichen Verhältnissen kann man in vielen Fällen nur mit Präsenzunterricht bei der Stange halten.

Ein Ende der Pandemie ist nicht in Sicht. Das Schuljahr 2020/21 steht ganz im Zeichen des Virus. Ist eine reguläre Bewertung der Schülerleistungen überhaupt möglich? Was ist mit den Abschlussklassen und -prüfungen?

Natürlich ist die Bewertung der Schülerleistungen in dieser Situation schwierig, keine Frage. Wir haben aber die Möglichkeit, in IServ oder in Microsoft Teams Klassenarbeiten schreiben zu lassen. Das ist nicht ideal, aber es bietet zumindest die Möglichkeit einer Lernfortschrittskontrolle. Ich denke, man sollte es bei den Abschlussprüfungen für die jeweiligen Abschlussklassen belassen. Diese sollten an den geleisteten Unterricht angepasst werden. Ließe man die Abschlussprüfungen ganz wegfallen, wären diese Jahrgänge für das ganze Leben mit dem Makel eines „Corona-Notabschlusses“ behaftet.