SPD-Chef stellt sich auf Einladung unserer Zeitung in seinem Wahlkreis der Diskussion – Er plant den Umbau zur Kümmer-Partei

"Wir wollen Sigmar Gabriel jetzt entlassen", sagt Moderatorin Luitgard Heissenberg nach einer spannenden zweistündigen Diskussion. Wie im Reflex stellt der neue SPD-Chef klar: "Nach Hause entlassen!" Die Verweildauer seiner Vorgänger sei allzu kurz gewesen.

Gabriel distanziert sich Donnerstagabend im Lebenstedter Gewerkschaftshaus von der unter dem SPD-Kanzler Gerhard Schröder beschlossenen Agenda 2010, dem Umbau der Sozialsysteme. Er räumt Fehler seiner Partei ein, aber er redet keinem nach dem Mund.

Der SPD-Chef steht auf Einladung unserer Zeitung vor 260 Zuhörern Rede und Antwort. "Ich finde das klasse", lobt er die neben ihm sitzende Salzgitteraner Redaktionsleiterin Heissenberg: "Sie sind die erste
Zeitung, die nach einer Bundestagswahl zur Diskussion einlädt. Politik beginnt doch nicht vier Wochen vor einer Wahl, sondern am Tag danach."

Zuerst beginnt für die Sozialdemokraten aber ein Selbstfindungsprozess, den Gabriel moderieren will. "Warum verliert die SPD eine Wahl ausgerechnet in einer Zeit, die nach sozialdemokratischen Antworten schreit?", fragt er und gibt selbst die Antwort: "Die Bevölkerung hat der SPD nicht mehr geglaubt, dass sie ihre Antworten ernst meint."

Gabriel übernimmt die Verantwortung für den Vertrauensverlust nur zum Teil. "Ich war 2003 gegen die Agenda 2010", stellt er etwa klar. Er habe damals gewarnt, dass die SPD die Menschen bitter enttäuschen werde. Genau das ist nun eingetreten – Gabriel, der Prophet.

Sicherlich, später musste er als Regierungsmitglied Beschlüsse wie die Rente mit 67 mittragen, aber eine große Koalition sei eben kein Wunschkonzert.

Der mit 94 Prozent gewählte SPD-Vorsitzende ist in seinem Element. Er redet pointiert, gestikuliert, lanciert Sprüche, die das Publikum erheitern. Als er den Afghanistan- und den Kosovo-Einsatz verteidigt, wird er laut, so wichtig ist ihm das. Weit lehnt sich Gabriel in seinem Sitz zur Seite, die neben ihm sitzende Heissenberg muss zurückweichen.

"Er ist sehr professionell", zeigt sich sogar Salzgitters CDU-Bürgermeister Frank Klingebiel beeindruckt. Gabriel greift die Stimmung im Saal auf. Zumindest seine Anhänger sind begeistert. "Das hast du gut gemacht, Sigmar!", freut sich Siegfried Diepold. Der 68-Jährige ist zu Willy Brandts Zeiten eingetreten. Er hofft, dass es mit Siggi wieder aufwärts geht.

Es ist nicht alles eitel Sonnenschein an diesem Abend. Rechts von Gabriel sitzen drei Menschen, die die verlorenen Wähler verkörpern. Und das ist keine kleine Gruppe: Seit 1998 hat jeder zweite SPD-Wähler das Weite gesucht. Die Salzgitteraner Studentin Afet Cavus (22) erklärt, dass ihr ein gebührenfreies Studium und eine Ausbildungsplatzgarantie wichtig seien. An die SPD habe sie nicht mehr geglaubt: "Ich habe aus Protest die Piratenpartei gewählt." Die stehe für ein freies Internet, für frei verfügbare Musik.

Gabriel regt das auf: "Politik muss sich doch der Frage widmen, was wir mit diesem Land vorhaben", sagt der SPD-Chef und erinnert an für ihn wichtige Werte wie Solidarität, soziale Gerechtigkeit – sie stünden im Gegensatz zur Vertretung von Einzelinteressen. "Wenn die freie Verfügbarkeit von Musik Ihre Gewichtung ist, dann wählen sie die Piraten", sagt er zu der Studentin. Ihren Zielen wie dem gebührenfreien Studium komme sie so aber nicht näher. Gabriel: "Ich will mich Ihrer Auffassung von Zusammenleben nicht anpassen. Lieber verzichte ich auf Ihre Stimme."

Afet Cavus ringt um Worte. Wie die anderen auf dem Podium ist auch sie Gabriel rhetorisch nicht gewachsen. "Aber Sie wollen doch die Stimmen haben?", fragt sie verdutzt. Es ist eine Schlüsselstelle der Diskussion.

"Ich werbe nicht um jede Stimme, ich werbe um ein Gesellschaftsbild." Gabriel sagt das so, dass man es ihm abnimmt: "Als ich in die SPD eingetreten bin, da war die SPD für Atomenergie und ich dagegen. Die SPD war für den Nato-Doppelbeschluss, ich war dagegen. Ich bin eingetreten, weil die SPD in ihrer Geschichte auf der richtigen Seite gestanden hat, und weil man in ihr streiten kann."

Gabriel will ihn nun wieder in die SPD zurückholen, den Streit, der in den letzten elf Jahren unerwünscht war. Die SPD-Minister sollten nicht beschädigt werden.

Ohne eine Distanzierung von der eigenen Regierungspolitik lässt sich die Glaubwürdigkeit nicht zurückgewinnen. Das betont Andreas Blechner, VW-Betriebsratsvorsitzender in Salzgitter. Schließlich habe es eine dramatische Umverteilung von unten nach oben gegeben: "Von dem auf drei Billionen Euro angewachsenen Netto-Geldvermögen gehören den obersten zehn Prozent der Bevölkerung inzwischen 61 Prozent – die unteren zehn Prozent haben gar nichts, nur Schulden."

Blechner habe in weiten Teilen ja Recht, räumt Gabriel ein, sonst hätte die SPD nicht 23 Prozent bekommen: "Natürlich war es für die Bürger schlecht nachvollziehbar, dass die Regierung jahrelang für Bildung und Soziales kein zusätzliches Geld hatte, dass in der Finanzkrise aber plötzlich weltweit 25 Billionen Euro bereitgestellt wurden."

Einen neuen und trotzdem ureigenen SPD-Kurs einzuschlagen, das ist nun Gabriels Mission. Der Erwartungsdruck ist riesig, er schultert ihn scheinbar gelassen. Der Arbeitnehmer-Seelsorger Ludger Wolfert, der dritte verlorene Wähler auf dem Podium, fordert eine Hinwendung zu den Werten der Nächstenliebe und Solidarität. Gabriel greift das auf. Er will die SPD zur Kümmer-Partei machen: "Was eine Volkspartei ist, bemisst sich nicht nach den Wahlergebnissen. Vielmehr muss die Volkspartei Nervenenden in alle Teile der Gesellschaft ausbilden."

Mitglieder, Sympathisanten, Abgeordnete und Funktionsträger müssten in alle Bereiche der Gesellschaft ausschwärmen. In zwei Jahren soll die SPD gestärkt und programmatisch aufgestellt sein. Gabriel will "nicht der oberste Animateur sein", das Zugpferd ist er doch. Er braucht viele Pferdestärken. Gästen wie der Braunschweigerin Eva Lavon (42) zeigt er in Salzgitter, dass er es packen könnte: "Ich wollte ihn nach dem Parteitag mal live sehen. Er war sehr ehrlich und gut. Vielleicht besinnt sich die SPD auf ihre Werte."

DOKUMENTATION:

Anregungen der Leser

Die Leser haben vorgeschlagen, um was sich die SPD in Zukunft kümmern soll und wovon sie sich abwenden soll. Der stellvertretende Chefredakteur Stefan Kläsener, der die Diskussion mit moderierte, übergab Sigmar Gabriel die in einer roten Mappe zusammengefassten Anregungen. Eine Auswahl:

Die SPD soll sich kümmern um…
die Armen in Deutschland.
die Aufarbeitung des Asse-Skandals.
soziale Gerechtigkeit.
eine Kooperation mit den Linken.
die Schaffung von Arbeitsplätzen.
gute Bezahlung im Niedriglohnsektor.
Ortsumgehungen.
ihre Glaubwürdigkeit.
einen neuen Gesellschaftsvertrag.
die Verteilung von oben nach unten.
gleiche Bezahlung für Zeitarbeiter.
die Erhaltung der Lebensgrundlagen.
einen konsequenten Atomaussstieg.
ein echtes Recht auf Asyl.
das NPD-Verbot.
das umlagefinanzierte Rentensystem.
einen Mindestlohn von zehn Euro.
eine ehrliche Politik.
echte Leistungsträger wie Facharbeiter.

Die SPD soll sich abwenden von…
dem Casino-Kapitalismus.
Hartz IV.
der Vermögenssteuer.
einer Drangsalierung der Autofahrer.
einer einseitigen Energiepolitik.
dem Afghanistan-Einsatz.
der Agenda 2010.
schädlichen Flügelkämpfen.
links blinken und rechts abbiegen.
den kommunistischen Linken.
der extrem teuren Solarförderung.
dem demokratischen Sozialismus.
Palastrevolten.
der Vergötterung der Demoskopie.