Wolfsburg. Hier ist niemand allein: Eine Bewohnerin spricht über ihr Leben im neuen Wolfsburger Hospiz, über die Pfleger und über ihren letzten Wunsch.

Ein letztes Mal zu Hause sein, ein letztes Mal die Haustür abschließen, ein letztes Mal „Nun ade, du mein lieb‘ Heimatland“. Hannelore Brock kam am 18. September ins Hospiz in Heiligendorf. Hier verbringt sie ihre letzten Lebtage, bevor sie hofft, die Seelen derer, die vor ihr gegangen sind, noch einmal wieder zu treffen.

Seit 11. November 2022 leidet sie an Krebs. Genauer gesagt an Vulvakrebs. Alleine leben, alleine kämpfen, alleine hoffen – das geht nicht mehr. Zu groß war die Sorge, dass sie in ihren eigenen vier Wänden alleine sterben muss. „Mein ganzes Leben habe ich in Hattorf gelebt. Hier hatten meine Großeltern und Urgroßeltern eine kleine Landwirtschaft“, erzählt Brock. „Bis heute bin ich dort geblieben, wir haben da gebaut, dann sind meine drei Söhne geboren, ich bin jeden Tag Fahrrad gefahren, und so bin ich alt geworden.“ Doch irgendwann war das Altwerden schwer, ganz allein.

Die 87-Jährige hatte sich schick gemacht, als sie vom Rettungsdienst abgeholt wurde. „Ich habe ja schließlich das Haus verlassen“, erzählt sie. Für immer. Was bleibt, sind die Erinnerungen an ihre geliebte Heimat. Und als sie sich ein letztes Mal zu ihrem Haus umdrehte, verabschiedete sie sich auch von ihrem Leben. „Als ich den langen Weg von meinem Haus weggegangen bin, da war es mir schwer. Da habe ich gesagt ‚Nun ade, du mein lieb‘ Heimatland‘“, sagt sie. Tränen fließen über ihr Gesicht. Sie schluchzt. „Ich wollte ja weg, aber ich habe ja immer gesagt, dass ich nicht weg will. Aber ich konnte nicht mehr...“

Neues Hospizhaus in Heiligendorf: Hannelore Brock fühlt sich hier wie zu Hause

Nun stand sie in ihrem neuen Zimmer im Hospiz. „Für mich war hier alles neu, das Haus, die Leute, sogar der große Fernseher“, erzählt die 87-Jährige. „Ich hatte nur meine weiße Tasche in der Hand, da war mein Portemonnaie drin, mein Schlüssel. Eben das Nötigste...“ Dann habe sie sich in den Sessel gesetzt. „Der erste Eindruck zählt.“ Und der war laut Brock sehr gut. Die Pflegefachkräfte haben ihren Kleiderschrank eingerichtet, eine andere kam mit Kaffee und Bienenstich. „Ich war zu Hause alleine, keine Menschen, die ich rufen konnte. Ich konnte nicht mehr. Und dann sitze ich hier wie Prima Donna. Das war mein erster Eindruck. Und dann fühlte ich mich im Hospiz schon wie zu Hause.“

Allein ist Hannelore Brock nun nicht mehr. Nicht nur die Pflegefachkräfte kümmern sich um die Dame. Auch viele Besucherinnen und Besucher kommen vorbei, bringen Blumen mit, unterhalten sich mit der 87-Jährigen oder leisten ihr Gesellschaft beim Kaffeekränzchen mit Schwarzwälder Kirsch auf dem Blech. „Ich mache Buchführung“, erwähnt Brock etwas humorvoll und nimmt ihren karierten Notizblock in die Hand. „Nach zehn Tagen hatte ich schon 64 Besucher.“ Am Tag des Interviews sind es bereits weit über 100. Eine Beschäftigung im Hospiz-Alltag. Auch während des Interviews sitzt die Schwiegermutter ihres Sohnes an ihrer rechten Bettkante. Ein weiterer Bekannter, ebenfalls ein häufig gesehener Besucher – Brocks Strichliste sei Dank – nimmt im Sessel gegenüber vom Bett Platz.

Schmetterlinge am Baum erinnern an die gestorbenen Hospiz-Gäste.
Schmetterlinge am Baum erinnern an die gestorbenen Hospiz-Gäste. © regios24 | Helge Landmann

Pflegefachkräfte und Gäste lachen im Hospizhaus in Heiligendorf gemeinsam

Das Zimmer ist hell, mit weißem und beigen Anstrich. Bodenlange Fenster lassen die Sonnenstrahlen herein. „So ein schönes, helles Zimmer und diese Aussicht“. Sie blickt auf den Hof Welkensiek, kann den Pferden beim Grasen zusehen. Auf Hannelore Brocks Nachtschrank steht eine Blumenvase mit gelben Stauden-Sonnenblumen. Gegenüber vom Bett steht noch ein Tisch. Hier finden sich Familienbilder, weitere Blumensträuße und die weiße Handtasche.

„Ich war so überrascht, so eingenommen, weil die hier alle so nett waren. Wie eine kleine Familie wurde ich aufgenommen, damit ich nicht so allein bin. Ich werde verwöhnt, von hinten bis vorn“, berichtet die Hospiz-Gästin. „Wir lachen immer alle zusammen. Das ist besser, als wenn ich immer wegen meiner Schmerzen weine.“

Im Hospiz in Wolfsburg wird das Lebensende erträglich

In Würde altern lassen, das macht die Hospiz-Arbeit von Michaela Rausch (42) und Michelle Chereck (27) so speziell. Sie arbeiten als Pflegefachkräfte im Hospizhaus Heiligendorf. Die beiden sind vor ein paar Wochen gemeinsam aus dem Hospizhaus in der Stadtmitte gewechselt, kennen sich schon, fühlen sich im Team geborgen und angekommen.

„Ich kann dem Tod offen gegenübertreten und das Beste draus machen“, sagt Rausch. „Es passiert ganz selten, dass hier jemand ins Hospiz kommt und bereit ist, zu sterben“, sagt Chereck. Und weiter: „Häufig sind es Leute, die noch gar nicht richtig in dem Prozess angekommen sind.“ Es liegt in Rauschs und Cherecks Händen, die Hospiz-Gäste auf ihrem Weg zu begleiten, ihnen das Lebensende erträglich zu machen. „Was an erster Stelle unser Auftrag ist, ist dafür zu sorgen, dass die Kraft da ist, sich mit dem eigenen Tod auseinandersetzen zu können. Und das funktioniert nur, wenn die Betroffenen keine Schmerzen haben, keine Übelkeit erleiden müssen. Das ist das, was wir nehmen müssen“, erzählt Stephanie Leier-Kwapinski, Pflegefachkraft und Leiterin des Pflegedienstes.

Es passiert ganz selten, dass hier jemand ins Hospiz kommt und bereit ist, zu sterben.
Michelle Chereck, Pflegefachkraft im Hospizhaus Heiligendorf

Hospizhaus in Heiligendorf: Hier werden individuelle Wünsche wahr

Und damit das gelingt, sind die Gäste in Heiligendorf die Bestimmer. Sie vermitteln, wie sie versorgt werden und leben möchten. Sie sind hier zu Hause. Zu Hause mit einer Wohnküche, einem Klavier, einem Wintergarten, Balkon... Im Hintergrund zwitschern Vögel. Es sind Hintergrundgeräusche, die man individuell in den Zimmern anpassen kann. „Wir können Meditationen anmachen, Entspannungsmusik oder auch andere Lieblingslieder“, erzählen die Pflegerinnen.

Im Hospiz in Heiligendorf werden persönliche Wünsche und Bedürfnisse gehört und möglich gemacht. Das sind nicht nur individuelle Musikwünsche. Manche wollen zum Beispiel noch einmal den Priester sehen, andere wollen noch einmal an einen bestimmten Ort, um Abschied zu nehmen. Und andere wünschen sich, noch einmal gemeinsam mit den Pflegerinnen und Pflegern an einem Tisch zu essen.

Im neuen Hospiz gibt es immer wieder kleine Kunstwerke, die das Leben noch einmal ins rechte Licht rücken. Viele gute Wünsche fürs neue Hospiz hängen im Treppenhaus an den Metallstäben einer Lampe. 
Im neuen Hospiz gibt es immer wieder kleine Kunstwerke, die das Leben noch einmal ins rechte Licht rücken. Viele gute Wünsche fürs neue Hospiz hängen im Treppenhaus an den Metallstäben einer Lampe.  © regios24 | Helge Landmann

Halt für Angehörige, Angestellte und Sterbende im Hospizhaus

„Wir können unseren Teil dazu beitragen, dass hier ein guter Tod gestorben wird“, sagt Leier-Kwapinski. Rausch pflichtet bei: „Wir wissen, dass wir die schlimme Symptomlast nehmen können.“ Daher sei das Thema Tod nicht so schlimm. Halt bekommen die Angestellten nicht nur unter Kolleginnen und Kollegen. „Wir nehmen uns auch mal in den Arm. Wir sind schließlich auch nur Menschen und dürfen mal weinen“, sagt Rausch. Auch das familiäre Umfeld sei wichtig. „Mit der Arbeit, die ich mache, mache ich etwas Gutes. Und es beruhigt mich, zu wissen: Wenn ich mal in dieser Situation bin, gibt es Menschen, die für mich da sind“, sagt Chereck.

Wir nehmen uns auch mal in den Arm. Schließlich sind wir auch nur Menschen und dürfen mal weinen.
Michaela Rausch, Pflegefachkraft im Hospizhaus Heiligendorf

Hospizarbeit, ein Beruf, durch den man das Leben nochmal mehr zu schätzen weiß. Da sind sich die Pflegerinnen einig. „Man weiß: Vielleicht haben wir gar nicht so lange Zeit, aber die Zeit, die wir haben, die nutzen wir auch“, sagt Rausch. Es braucht nicht viele Worte von Rausch oder Chereck, sie sind „einfach da“, die Gäste können mit ihnen reden, sie hören zu. Aber auch Angehörige werden im Hospiz aufgefangen und gestützt: „Wir stehen die schwere Zeit mit ihnen gemeinsam durch, damit sie nicht allein sind“, sagt Rausch.

Eigentlich möchte ich noch gar nicht sterben, ich möchte noch ein paar Tage hier bleiben, weil es mir hier so gut geht.
Hannelore Brock, Gästin im Hospiz

Sie haben tagtäglich mit Abschied, Trauer und Tod zu tun. Mal wird ein paar Mal am Tag gestorben, mal wird mehrere Tage oder Wochen gar nicht gestorben. Hospiz-Gäste kommen und gehen. Aber die Liebe zu den Menschen bleibt für immer. Und selbst gebastelte Schmetterlinge, die die Namen der Verstorbenen tragen, erinnern an einem Baum an die Seelen, die das Hospiz besucht haben.

„Ich bin schon lange vorbereitet. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Aber eigentlich möchte ich noch gar nicht sterben, ich möchte noch ein paar Tage im Hospiz bleiben, weil es mir hier so gut geht“, erzählt Brock. Ein paar Tage, bevor sie dann irgendwann die Seelen ihrer Lieben, die sie so sehr vermisst, wieder trifft.