Wolfsburg. Dr. Thorsten Kleinschmidt spricht über die Ärzteversorgung, die Zusammenarbeit mit dem Klinikum – und den Krankenstand der VW-Mitarbeiter.

. Nach einem Hin und Her ist auch Wolfsburg „Gesundheitsregion“ und damit Teil des Förderprogramms, das die Kassenärztliche Vereinigung (KV) mit dem Niedersächsischen Gesundheitsministerium und den gesetzlichen Krankenkassen auf den Weg gebracht hat. Gleichzeitig verändert sich das Gesundheitswesen rasant – neue Gesetze werden diskutiert, und die Ärzteschaft wird im Durchschnitt immer älter. Über all dies sprach Kerstin Loehr mit Dr. Thorsten Kleinschmidt, dem Vorsitzenden der KV Braunschweig.

Herr Dr. Kleinschmidt, Thema „Gesundheitsregion“. Was bringt den Wolfsburgern denn die Teilnahme an diesem Projekt?

Das Projekt „Gesundheitsregion“ will neue Konzepte in der Gesundheitsversorgung entwickeln und umsetzen, dazu wird das Netzwerk zwischen den verschiedenen Akteuren in der Gesundheitsversorgung verstärkt. In Wolfsburg geht es ganz grundsätzlich darum, die hausärztliche Versorgung durch Anreize für junge Mediziner sicherzustellen, die Schnittstellen zwischen den Ärzten und dem Klinikum, insbesondere mit Blick auf die Notfallversorgung, weiter zu verbessern.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Nehmen wir Volkswagen. Es ist toll, dass sich ein großer Arbeitgeber in der Region wie VW so um die Gesundheit seiner Mitarbeiter kümmert. Das kann ich als Arzt nur begrüßen. Nun wurde aber unlängst gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung der Vorwurf laut, dass der Krankenstand der VW-Mitarbeiter zu hoch sei – und das, weil die niedergelassenen Ärzte zu viel krankschrieben. Zum einen wäre das Ganze eigentlich Aufgabe eines betrieblichen Gesundheitsmanagements – und gehört nicht nach außen gewendet. Zum anderen wäre das ein Thema, das wir unbedingt in die Gesundheitsregion einspeisen sollten: Auf der Ebene könnten gemeinsam neue Strukturen und Netzwerke geschaffen werden.

Und wie läuft die Zusammenarbeit mit dem Klinikum? Da gibt es ja seit Langem das Problem der Patienten-Ströme zwischen der Bereitschaftsdienstpraxis der niedergelassenen Ärzte und der Notaufnahme im Klinikum, die mittlerweile kapazitätsmäßig an ihre Grenzen kommt.

Der Umgang mit dem Klinikum ist mittlerweile sehr unkompliziert, konstruktiv und sehr entspannt. Wir arbeiten weiter an einer Verbesserung der Strukturen und wollen mit dem Klinikum in die gleiche Richtung, aber es ist und bleibt eben genau das Grundproblem, dass viel zu viele Patienten in die Notaufnahme gehen, die mit ihren Beschwerden dort gar nicht hingehören, sondern im niedergelassenen Bereich weitaus besser aufgehoben wären – die dort im Klinikum dann aber, vor allem auch aus forensischen Gründen, eine Überdiagnostik erhalten.

Wie entwickelt sich denn die Versorgung im haus- und fachärztlichen Bereich in Wolfsburg?

Wir haben in Wolfsburg im hausärztlichen Bereich einen Versorgungsgrad von 99,2 Prozent, im Wolfsburger Umland, zu dem auch Teile von Gifhorn und Helmstedt gehören, liegt er bei 83,6 Prozent. Wir sprechen da in Wolfsburg von 75,25 Planstellen – das macht 1636 Einwohner pro Arzt, im Umland von 19 Planstellen. Das heißt: In Wolfsburg können sich – mit Teilzeitstellen – noch 8,5 Ärzte ansiedeln, im Umland 6,5. Um eine Unterversorgung handelt es sich aber in keinem Fall, die beginnt erst ab einer Versorgungsdichte bei den Hausärzten von unter 75 Prozent, bei den Fachärzten von unter 50.

Haben die Bemühungen von KV und Stadtverwaltung, insbesondere junge Ärzte mit flexiblen Teilzeitmodellen nach Wolfsburg zu locken, gefruchtet?

Es gab bereits einige Ansiedlungen. Ganz aktuell zum Januar 2019 haben sich zwei Frauen in Rühen und Ehra-Lessien niedergelassen – zwei unterversorgte Gebiete. Die Ärztinnen haben einen Investitionskostenzuschuss von 60.000 Euro erhalten und zusätzlich eine Umsatzgarantie für acht Quartale. In der Stadt Wolfsburg wird dieses Thema in den nächsten Jahren immer relevanter. Denn das durchschnittliche Alter der Ärzte in Wolfsburg liegt bei 55 Jahren, und die hören irgendwann auch auf. Gerade bei den älteren Kollegen handelt es sich um Einzelpraxen, deren Nachbesetzung sich sehr schwierig gestalten wird.

Heißt das, dass wir in Wolfsburg weniger Gemeinschaftspraxen haben als anderswo?

Ja, absolut. Die Zahl der sogenannten Berufsausübungsgemeinschaften liegt in Wolfsburg-Stadt bei 22 – das macht rund 30 Prozent der Praxen aus. In Braunschweig und auch Salzgitter liegt der Anteil bei über 40 Prozent, übrigens auch im Wolfsburger Umland.

Und wie sieht es bei der fachärztlichen Versorgung aus?

Da haben wir in allen Bereichen – Augenärzte, Kinderärzte, HNO, Orthopäden, Urologen, Frauenärzte, Chirurgen, Nervenärzte, Hautärzte und Psychotherapeuten – eine sehr gute Versorgung, formal eine Überversorgung von mehr als 110 Prozent. Spitzenreiter sind die Augenärzte mit einem Versorgungsgrad von 160,4, gefolgt von den HNO-Ärzten (141,3) und den Kinderärzten (139,2). Noch höher liegt der Versorgungsgrad bei den spezialisierten Fachärzten wie Fach-Internisten, Anästhesisten, Radiologen und Kinder- und Jugendpsychiatern – bezogen jedoch auf die gesamte Region. Allerdings muss man sagen, dass die jetzige Bedarfsplanung nicht passt und die Versorgungswirklichkeit, wie sie Patienten und Ärzte erleben, nicht abbildet.

Kommen wir noch mal zum kassenärztlichen Bereitschaftsdienst, der außerhalb der Sprechzeiten der niedergelassenen Ärzte eintritt – wie entwickeln sich da die Fallzahlen, auch im Vergleich zur übervollen Notaufnahme?

Wir haben dort ja einen Fahrdienst, der mit dem Auto unterwegs ist und Hausbesuche macht, und einen Sitzdienst in der Bereitschaftsdienstpraxis. Die Zahlen schwanken, mit saisonalen krankheitsbedingten Unterschieden, so um die 4500 bis 5000 Fälle pro Monat – davon sind aber immer weniger als ein Viertel Hausbesuche. Die Fallzahlen in der Notaufnahme des Klinikums liegen aus den besagten Gründen grundsätzlich höher – durchschnittlich bei rund 5800 Fällen.

Abschließend eine politische Frage: Wie stehen Sie als KV-Vorsitzender und niedergelassener Hausarzt zu dem geplanten Terminservice- und Versorgungsgesetz, mit dem Gesundheitsminister Spahn schnellere Termine und eine bessere Versorgung für die Patienten schaffen möchte?

Das ist sicher gut gemeint vom Minister, aber nicht zielführend. Aus KV-Sicht ist die Ausweitung der Sprechstundenzeiten von 20 auf 25 Stunden pro Woche ein staatlicher Eingriff in die Praxisstruktur aller niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten, der mit der subversiven Unterstellung daherkommt, die Ärzteschaft würde nicht genug arbeiten – so etwas verbitten wir uns! Solch ein staatlicher Eingriff führt in keinem Fall zu mehr Arztterminen, weil die meisten Ärzte diese Anforderung eh schon erfüllen.

Genauso sieht es aus mit den Plänen offener Sprechstunden, die verbindlich für Praxen eingeführt werden sollen. Viele Ärzte bieten das schon heute an und haben eine Arbeitszeit von deutlich über50 Wochenstunden. Ich bin sicher, dass ältere Ärzte sich solchen Vorgaben nicht mehr unterwerfen wollen und dann aufhören. Das würde die Versorgung verschlechtern und nicht verbessern. Ich würde mich auch nicht wundern, wenn viele Praxen gegenteilig reagieren und sagen: Wenn 25 Sprechstunden pro Woche gefordert werden, werden wir auch genau das liefern; heißt Montag bis Freitag von 8 bis 13 Uhr – Danke Herr Minister für mehr Lebensqualität! Eine 24-stündige Erreichbarkeit der Terminservicestelle lehnen wir auch kategorisch ab – das ist unwirtschaftlich und medizinisch nicht zu begründen: Welcher Vorteil soll denn darin liegen, nachts um 3 Uhr einen Orthopädentermin vereinbaren zu können?

Die Idee, eine 24/7 Erreichbarkeit zum Thema Leitstelle einzuführen, halte ich allerdings für gut. Das würde helfen, die Patienten dahin zu leiten, wo sie auch hingehören.