Wolfenbüttel. Aviso-Autor Georg Ruppelt blickt auf die Zeit nach Lessings Tod – und die Pilgerreisen seiner Bewunderer nach Wolfenbüttel.

Nach Lessings Tod kamen viele Besucher nach Wolfenbüttel, um die Bibliothek Lessings und ihre Umgebung zu sehen. So heißt es etwa im Reisebericht eines kurhannoverschen Beamten 1783: „Den folgenden Tag reisete ich nach Wolfenbüttel. Die Bibliothek hatte ich gesehen und Lessing war todt. Ich fuhr also nach der Hedewigsburg.“

Aviso-Autor Georg Ruppelt.
Aviso-Autor Georg Ruppelt. © Wflok

Johann Hermann Stöver berichtet von einem Besuch 1789: „Wolfenbüttel, welches 5 Meilen von Helmstädt liegt, ist schön gebauet, aber sehr stille und einsam, seitdem der Hof sich dort nicht mehr aufhält. Es lebt sich da sehr wohlfeil, und für etwa achtzig Thaler jährlichen Miethzinns [was heute wohl etwa 200 € entspricht] kannst Du hier die schönsten Gebäude, die beynahe kleine Palläste sind, häuern.
Der Aufenthalt verschiedener Collegien hieselbst macht die Stadt noch etwas lebhaft, und verschaft den Einwohnern guten Zugang. Von der Bibliothek brauche ich Dir wenig zu sagen, da sie weltberühmt ist. Was ihre Schätze für die alte Litteratur betrift, so darf sich schwerlich irgend eine andere Bibliothek mit ihr messen. Schade für das Publikum, daß ihr letzter Aufseher, Leßing, nicht zweymal leben konnte. Was seine Feinde auch sagen mögen, so bleibt dieser Mann doch immer einer der ersten, größten und originellsten Köpfe Deutschlands, der den Ruhm der deutschen Litteratur auch bei den Ausländern mit gründen half.“

Sehnsuchtsort Wolfenbüttel

Der Wiener Journalist und Theaterkritiker Ludwig Hirsch bzw. Lajos Lövy (1843—1910), der unter dem Pseudonym Ludwig Hevesi schrieb, gibt sich 1889 anlässlich eines Besuches in unserer Stadt scheinbar, wirklich nur scheinbar, enttäuscht von der Lessing-Stadt:

„Bei dem Worte Wolfenbüttel fällt einem gleich der halbe Lessing ein, und das halbe Gymnasium, auf dem man ihn verschlang, und die halbe Jugendzeit, die sich an ihm zu Feuer und Flammen entzündete. Wie hat man damals jenen vertrackten Hauptpastor Goeze so energisch mitverachtet und den braven aufgeklärten Theologen Berengarius so fleißig mitendeckt […]

Wolfenbüttel, der Name klingt in der Knabenzeit so halbmythisch, wie etwa Guanahani, der Name der Insel, welche Columbus drüben zuerst betrat; an die dortige Bibliothek denkt man ungefähr wie an das Mausoleum zu Halikarnaß oder den Tower in London, mit Ahnungen einer klassischen Romantik. Niemand stellt sich die Möglichkeit vor, daß er diesen Wetterwinkel, aus dem der Donnerer Lessing einst seine Blitze schleuderte, irgend einmal als Tourist betreten könnte. Geschieht dies dann, so sehen die Dinge freilich ganz anders aus, als sie von Rechts wegen aussehen sollten. Man erkennt das Wolfenbüttel seiner Jugend nicht. In bedauerlich bequemer Weise versetzt einen die Eisenbahn von Braunschweig in zwanzig Minuten dahin; man braucht nicht nach Lessings Stadt zu ‚pilgern‘, oder gar zu ‚wallen‘, was um so viel mehr Stimmung hätte; überflüssig ist jedes Ränzel auf dem Rücken und nicht einmal staubig werden die begeisterten Schuhe.

Stadt-Impressionen aus dem späten 19. Jahrhundert

Vergebens lugt man aus dem Coupéfenster nach dem in jener Zeit berühmten ‚Weghause‘ aus, das, an der Straße zwischen Braunschweig und Wolfenbüttel gelegen, so oft beiderseitige Zechgäste vereinigte und über welche Lessing oft genug nicht hinauskam, wenn er auf dem Hin- und Herweg dort Bekannte traf und sich gehörig festplauderte.

Auf dem Bahnhofe steht ein Lastzug, nicht mit alten Pergament-Codices beladen, sondern mit Zuckerrüben und Bauholz. Und betritt man die ehrwürdige Bücherstadt, so gelangt man nicht etwa durch die Lessingstraße auf den Gotthold-Ephraimsplatz, sondern (Hört! Hört!) durch die Kommißstraße auf den Kornmarkt. Das Gäßchen hier links mit den Laubengängen heißt nicht Minnagäßchen, sondern Krambuden, und der große Platz rechts, wo das vielgegiebelte Gotteshaus steht, ist kein Nathansplatz, sondern der Stadtmarkt und der krause Bau daran keine Synagoge, sondern eine Kirche, und die Baumreihen ringsum bestehen aus gewöhnlichen Linden, nicht aber aus jenen Palmen, von denen der Tempelherr sich im Lustwandeln ‚Datteln pflückt‘, obwohl er dazu mindestens dreißig Fuß hoch sein müßte. […]

Es will Abend werden und die Eisenbahnstunde ruft. Nachdenklich lenkt man die Schritte über den Schloßplatz zurück. Der hohe viereckige Turm des alten, vielfenstrigen Herzogschlosses schimmert mit seinen vier hübschen Giebelchen im Abendrot und auf dem Wassergraben, der das Schloß von altersher noch umzieht, lieget ein feiner Wiederschein. Um das Schloß mit Wall und Graben herum, kam, das war der tägliche Nachmittagsspaziergang Lessings. Irgend ein ausgehungerter Leser aus dem Lesesaal ging wohl mit, nachdem ihn der gutherzige Herr Hofrat erst daheim an seinem eigenen Tische genährt und getränkt. Mancher dieser Leute quartierte sich gleich für einen ganzen Winter in Lessings Hause ein und brachte wohl gar noch einen Hund mit.“

Georg Ruppelt erzählt Geschichte und Geschichten aus Stadt und Kreis. Ruppelt war stellvertretender Direktor der Herzog-August-Bibliothek und Direktor der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek.

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