Wolfenbüttel. Der Aviso-Autor blickt diesmal auf die Entwicklungen vor 100 Jahren, als ein gewisser Adolf Hitler reichsweite Bekanntheit erlangte.

Welt

Stalin gewinnt in der UdSSR nach Lenins Tod den Machtkampf gegen Trotzki, der mehrfach verbannt, zurückgeholt und schließlich ausgewiesen wird. 1940 wird er in Mexiko vom sowjetischen Geheimdienst ermordet. – Die Olympischen Spiele finden zum zweiten Mal statt (nach 1900). In Paris werden Johnny Weissmueller im Schwimmen und Paavo Nurmi im Laufen gefeiert. Deutschland ist an den Olympischen Spielen nicht beteiligt. – Die Reparationszahlungen Deutschlands werden im Dawes-Plan geregelt, großzügige Auslandskredite beleben die deutsche Wirtschaft. Im Oktober wird die Reichsmark (RM) eingeführt. In bescheidenem Rahmen der vom Versailler Vertrag vorgegebenen Bedingungen findet eine Wiederaufrüstung statt.

Aviso-Autor Georg Ruppelt.
Aviso-Autor Georg Ruppelt. © Wflok

Adolf Hitler wird in einem Hochverratsprozess zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Der 9. November 1923 wird künftig von seiner Partei als besonderer Festtag heroisch überhöht. Hitler wird auf diese Weise im gesamten Reich bekannt. In der Haft schreibt er „Mein Kampf“. Bereits im Dezember wird er wieder freigelassen. – In diesem Jahr muss zweimal für den Reichstag gewählt werden, im Mai und im Dezember. Die Ergebnisse, Mai / Dezember: Nationalsozialisten (6,5% / 3,0%) – Deutschnationale (19,5% / 20,5%) – Deutsche Volkspartei (9,2% / 10,1%) – kleine Parteien (9,4% / 7,7%) – Zentrum (16,6% / 17,3%) – Demokraten (5,/% / 6,3%) – Sozialdemokraten (20,5% / 26,0%) – Kommunisten (12,6% / 9,0%).

Der Massenmörder Fritz Haarmann wird in Hannover verhaftet.

Wolfenbüttel

Braunschweigischer Ministerpräsident wird Gerhard Marquordt (Deutsche Volkspartei, DVP), der einer bürgerlichen Koalition mit einem Vertreter der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) vorsteht. – Die Währungsumstellung stimmt die Bürger hoffnungsfroh, dennoch berichtet die Lokalzeitung von Auswanderern nach Amerika, Australien, Holland und Palästina. Im Sommer wird die Stabilisierung der Wirtschaft sichtbar, die Arbeitslosigkeit sinkt gegen Null. – Die Stadt legt dem Landtag einen Gesetzentwurf zur Eingemeindung von Grundflächen der Gemeinden Ahlum, Atzum, Linden und Wendessen vor, die vom Landtag im Oktober bestätigt wird. Sie hofft damit, den Gemüsebau und die Konservenindustrie zu fördern, auch um Wohnraum zu schaffen. – In Vorbereitung der Reichstagswahl im Mai kommt es zu intensiver Wahlpropaganda des völkisch-sozialen Blocks (dem auch die NSDAP angehört) und zu antisemitischen Ausschreitungen. Die Wahlen im Mai haben folgendes Ergebnis: SPD (1847 Stimmen), KPD (1411), DNVP (1411), DVP (2074), NSDAP (1673).

Eine Ortsgruppe des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold zum Schutz der Republik, bestehend vor allem aus SPD-Anhängern, wird in Wolfenbüttel gegründet. – Geschäftsführer der NSDAP wird der Lehrer Paul Eickelmann.

Bei der Reichstagswahl im Dezember gehen die Stimmen der Nationalsozialisten um über 1000 zurück, die DVP wird stärkste, die SPD zweitstärkste Partei. – Eine Viehzählung in der Stadt ergibt 300 Stück Vieh und 7500 Hühner.

In der Landesbibliothek wird die Ausstellung „Die Entwicklung unserer Schrift“ gezeigt. In einem kleineren Bibliotheksraum wird eine Dauerausstellung zum Andenken an Lessing eröffnet. Damit kann die „Lessing-Bibliothek“ zum ersten Mal eine ständige Sammlung von Lessingiana vorführen. – Die Mitglieder der Schützengesellschaft beschäftigen sich mit dem Gedanken, einen Saal zu bauen, denn „nach dem Eingehen der Säle des ‚Deutschen Hauses‘ und des ‚Löwen‘ müsse man von einer Saalarmut in Wolfenbüttel“ sprechen. Das Projekt wird jedoch nicht ausgeführt und erst Ende der 50er Jahre wieder aufgegriffen. – Neuer Direktor des Braunschweigischen Staatsarchivs wird Hermann Voges (bis 1938). – Der Kreisgemeindeverband erwirbt die vorgeschichtliche Sammlung des Kantors Knoop aus Börßum. Daraus entsteht später das Kreismuseum für Urgeschichte. – Der im 30-jährigen Krieg zwischen Lechlumerholz und der Oker errichtete „Schwedendamm“ wird abgetragen.

Georg Ruppelt erzählt jede Woche Geschichte und Geschichten aus Stadt und Kreis. Ruppelt war stellvertretender Direktor der Herzog-August-Bibliothek und Direktor der Gottfried-Wilhelm- Leibniz-Bibliothek.