Wolfenbüttel. Vito musste hilflos dabei zusehen, wie hunderte Flüchtlinge vor der Küste Lampedusas starben. Willi Schlüter verkörperte ihn emotional.

„Das Boot ist voll“. Ein Satz, von Angst, Egoismus, Mitleidslosigkeit aufgeladen. Er beschreibt aber auch Realitäten. Dieser Satz steht für das Dilemma der europäischen Migrationspolitik und die Haltung der Bevölkerung. Er wird missbraucht, ist aber auch eine Binsenweisheit. Wir benutzen ihn, wie es uns gefällt. Er ist ein Alibi. Wir sprechen uns frei. Vito, Besitzer eines Eiscafés auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa, hat genauso gedacht und geredet. Bis zum 3. Oktober 2013. Von diesem Tag handelt das Theaterstück „Das Boot ist voll“ von Antonio Umberto Riccò, eingerichtet vom Theater in der List Hannover. Jetzt war es zu sehen im Schlosstheater anlässlich der Interkulturellen Woche im Landkreis Wolfenbüttel. Das Ein-Personenstück ist frei von Appellen, frei von Moralpredigten, frei von Anklagen Es schildert Tatsachen. Man erinnert sich: Vor fünf Jahren ereignete sich vor der nur 113 km vor der afrikanischen Küste gelegenen Insel eine Tragödie. Vito Fiorino unternimmt mit seinem kleinen, neun Meter langen Fischerboot „Gamar“ und sieben Freunden einen Kurzausflug. Da sehen sie kaum 800 Meter von der Küste entfernt Menschen im Wasser treiben. Einige leben, viele sind tot, die meisten sind bei der Havarie ihres leckgeschlagenen Schiffchens ertrunken. Vito und seine Freunde retten 47 Menschen. Fürchterlich, sagt Vito, sei es gewesen, Menschen abzuweisen, sie dem sicheren Tod zu überlassen. Aber das Boot ist voll. Im buchstäblichen Sinn. Was war geschehen? Das Schlepperboot, überladen mit 500 Flüchtlingen, hatte fast Lampedusa erreicht. Da kam es zu einem Motorschaden. Weil sie die Lichter von der Insel sahen und sich in unmittelbarer Nähe zwei Boote aufhielten, waren sie nicht beunruhigt. Als diese Boote abdrehten, glaubten die Flüchtlinge, man hätte sie nicht gesehen und zündeten eine Decke an. Brennende Teile fielen in das Schiff, Panik brach aus, das Schiff kenterte. 368 Menschen starben. Vito und seine Freunde leben seitdem mit diesen schrecklichen Bildern. Daran änderte auch die juristische Aufarbeitung nichts. In bewegenden Worten schildert Willi Schlüter als Vito seine Scham und die seelischen Verletzungen seiner Freunde, seine verloren gegangene Lebensfreude, aber auch die Dankbarkeit der Geretteten, mit denen er jedes Jahr gemeinsam am Ort der Katastrophe der Toten gedenkt. Und wir? Sind wir weniger Täter, nur weil wir zufällig weit entfernt von den Küsten des Mittelmeeres leben? Das Boot ist voll - ein Satz, so richtig wie falsch. Wir wissen, dass das Boot noch Platz hat. Das sagt uns unser Gewissen. Das sagt uns unser Herz. Und wer weiß, ob wir in unseren unruhigen Zeiten nicht selbst einmal auf die Hilfe anderer angewiesen sein werden? Müssen wir das Leid der Flüchtlinge erst am eigenen Leibe spüren, um ihre Existenzangst zu verstehen? Das Publikum im Theatersaal, nur wenige waren gekommen, waren berührt von dem Blick in die verwundeten Seelen von Vito und seiner Freunde und von dem intensiven, nur auf das Wort vertrauenden Inszenierung.