Berlin. Tausende Menschen sterben in Deutschland jährlich an Blutvergiftungen. Wie man sie erkennen kann und was sie so gefährlich macht.

Die Mediziner sagen Sepsis, der Volksmund nennt es Blutvergiftung. In Deutschland sind Schätzungen zufolge jedes Jahr rund 150.000 Menschen betroffen, Tendenz seit Jahren steigend. Manche Studien gehen noch von deutlich höheren Betroffenenzahlen aus. Einer von ihnen ist Schauspieler Til Schweiger. Wie die „Bild“ berichtet, liegt der 60-Jährige seit vierzehn Tagen auf Mallorca im Krankenhaus und erhält Antibiotika.

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Schuld an der Misere, nach Schweigers eigener Aussage: eine Verletzung am Bein aus dem vergangenen August. Er habe sich „damals das Schienbein angeschlagen und da sind dann Keime reingekommen“. Jetzt habe er ein „offenes Bein“, das leider „immer schlimmer“ geworden sei. Wie „Bild“ erfahren haben will, stand sogar zeitweise eine Beinamputation im Raum. Die Gefahren einer Sepsis sind nicht von der Hand zu weisen: 75.000 bis 90.000 sterben hierzulande jedes Jahr daran.

Blutvergiftung – das sind mögliche Symptome

Viele der Todesfälle könnten jedoch verhindert werden, glauben Experten. Wenn Hausärzte, Pfleger, Hebammen, Intensivmedizinerinnen, aber auch Laien stärker sensibilisiert wären. „Sepsis geht einfach jeden etwas an“, sagt Ruth Hecker, Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit und Initiatorin der Kampagne „Deutschland erkennt Sepsis“. „Wenn wir uns über 3000 Verkehrstote aufregen, warum nicht über die Sepsis-Toten?“, fragt Hecker.

Die typischen typische Symptome einer Sepsis:

  • Fieber und Schüttelfrost
  • Verwirrtheit und Desorientierung
  • Wesensveränderung
  • Schneller Puls, Herzrasen
  • Kurzatmigkeit, schnelle Atmung
  • Feuchte Haut, Schwitzen
  • Schwäche
  • Schmerzen, starkes Unwohlsein
  • Extremes Krankheitsgefühl

Nicht nur offene Wunden können zu Blutvergiftungen führen

Der Intensivmediziner und Sepsis-Experte Matthias Gründling von der Uniklinik Greifswald ist überzeugt: „Es ist nicht allgemein akzeptiert, dass die Sepsis ein Notfall ist.“ So wie ein Herzinfarkt, wie ein Schlaganfall. Noch immer werde eine Sepsis häufig nicht oder zu spät erkannt, sagt auch Thorsten Brenner, Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin an der Uniklinik Essen. „Jeder weiß, was ein Herzinfarkt ist. Aber eine Sepsis? Da herrscht oft Unwissen.“ Selbst die Wissenschaft wisse vieles noch nicht. „Es ist ein hochkomplexes Feld, auf dem viele Fragen unbeantwortet sind“, sagt Brenner, der seit vielen Jahren dazu forscht.

Um einer Sepsis vorzubeugen, sollte man sich gegen bestimmte Erreger impfen lassen. Dazu zählen etwa die Grippe oder bakterielle Pneumokokken. Was man weiß: Eine Sepsis nimmt ihren Anfang immer in der Infektion durch einen Erreger. Meist sind es Bakterien, es können aber auch Viren, Pilze oder Parasiten sein. Anders als viele Menschen glauben, braucht es für eine Blutvergiftung keine offene Wunde, auch nicht die berühmte rote Linie.

Jede Infektion kann zu einer Sepsis führen, egal ob ein Harnwegsinfekt, eine Lungenentzündung oder eine Grippe. Auf diese Infektion reagiert das Immunsystem nicht in gewohnter Weise, es reagiert zunächst über. „Die Abwehrreaktion, die dafür gedacht ist, an Ort und Stelle eine Infektion zu bekämpfen, wird plötzlich systemisch“, sagt Brenner. Das Immunsystem bekämpft die eigenen Organe, auch weit entfernt vom Entzündungsherd. „Warum das so ist? Wir wissen es nicht.“

Sepsis-Betroffene: Nieren, Leber und Lunge versagten

Julia Schiedermaier war selbst betroffen. Alles begann bei ihr an einem Wochenende im Februar 2019 mit schmerzenden Gliedern und laufender Nase. Die Mutter von zwei Kindern fühlte sich matschig, konnte schlecht atmen und hatte Schmerzen unter dem Rippenbogen. Die Hausärztin, zu der sie sich schleppte, tippte auf Influenza. Februar ist Grippezeit, das Coronavirus damals noch ein Unbekannter.

„Es fühlte sich tatsächlich wie eine Grippe an“, sagt Schiedermaier später. „Dieses extreme Krankheitsgefühl, Fieber, Kopfschmerzen.“ Doch es war nicht die Grippe, sondern eine Sepsis. Das Immunsystem der damals 40-Jährigen griff ihre Organe an. Die Ärzte sagten später, ihre Überlebenschancen hätten bei zehn Prozent gelegen, wenn überhaupt.

Nieren, Leber und Lunge von Julia Schiedermaier versagen. Toxischer Schock, die Endstufe einer Blutvergiftung. Die Ärzte in der Münchner Klinik entdecken einen Eiterherd auf dem Brustfell – auf jener Haut, die die Lunge überzieht. „Anderthalb Liter Eiter haben sie mir abgesaugt“, sagt Schiedermaier. Daher die Luftnot und die Schmerzen.

Ob sie überleben würde, wussten die Ärzte nach der Operation nicht. Auch nicht, ob ihr Hirn extremen Schaden genommen hatte. Sie verlegten die Patientin in ein künstliches Koma und entschieden von Stunde zu Stunde, was zu tun ist. Dosierten Medikamente neu, wechselten die Medikation.

Zahl der Sepsis-Fälle steigt seit Jahren

„Das ist die größte Herausforderung: Zu wissen, in welcher Phase der Erkrankung sich der Patient befindet“, sagt Intensivmediziner Gründling. Das Immunsystem reagiere am Anfang über, aber es gebe auch Phasen, in denen es nicht ausreichend reagiere – „oder in denen beides parallel abläuft“. Je nach Erreger, je nach Phase der Sepsis muss die Therapie sehr fein abgestimmt sein.

Die Krankenhaus-Sterblichkeit bei einer Sepsis liegt in Deutschland seit Jahren bei etwa 40 Prozent, vor allem ältere Menschen und jene mit Vorerkrankungen wie Diabetes, Krebs oder Erkrankungen der Lunge oder Nieren haben ein hohes Risiko zu versterben.„Wir haben hier einerseits große Fortschritte gemacht“, sagt Frank Brunkhorst, Professor für Klinische Sepsisforschung am Uniklinikum Jena und Generalsekretär der Deutschen Sepsis-Gesellschaft. Vor 30 Jahren seien noch 60 Prozent der Betroffenen verstorben.

Gleichzeitig steige seit Jahren die Zahl der Betroffenen. Was nach Ansicht von Brunkhorst auch an der Tatsache liegt, dass medizinische Eingriffe fast kein Alter mehr kennen. „85-Jährige werden heute am Herzen operiert. Sie haben in der Folge eine große Wundfläche und aufgrund ihres hohen Alters eine eingeschränkte Abwehr.“ Bei diesen Patienten müsse man vor einem solchen Eingriff das Sepsis-Risiko immer mitdenken.

Krankenhäuser müssen bei Behandlung umdenken

Das Sepsis-Risiko mitdenken. Diesen Leitgedanken verfolgt das Uniklinikum Greifswald seit mehr als zehn Jahren – und hat auf diese Weise die Sepsis-Sterblichkeit an der Klinik noch einmal um sieben bis zehn Prozent unter den Schnitt senken können. Unter Leitung von Gründling wurde dort ein Sepsis-Dialog ins Leben gerufen. Eine eigene Sepsis-Schwester wurde ausgebildet, das Personal geschult, Mediziner wie Pflegekräfte gleichermaßen. Jeder trägt eine Art Karteikarte mit sich, die daran erinnert, dass eine Sepsis immer eine Option sein kann.

„Bei uns steht der Verdacht einer Sepsis so lange im Raum, bis er mithilfe von Laboruntersuchungen ausgeschlossen werden kann. Auch wenn jemand mit Schlaganfall-Symptomen zu uns kommt“, so Gründling. Außerdem arbeitet die Klinik an einer deutlich beschleunigten Diagnose. Denn nichts ist bei einer Sepsis so entscheidend, wie die frühzeitige Ermittlung des Erregers. Im Rahmen einer Studie erweiterten Gründling und sein Team diese mikrobiologische Überwachung des Blutes auf 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Künftig soll die 24/7-Überwachung Standard werden. „Damit wären wir die Ersten in Deutschland“, sagt Gründling.

Die Überlebenschancen von Julia Schiedermaier schätzten die Ärzte auf zehn Prozent – wenn überhaupt. Was der Auslöser für ihre Blutvergiftung war, weiß niemand genau.
Die Überlebenschancen von Julia Schiedermaier schätzten die Ärzte auf zehn Prozent – wenn überhaupt. Was der Auslöser für ihre Blutvergiftung war, weiß niemand genau. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Sepsis-Betroffene verlor ihr Bein – Auslöser blieb unklar

Verbreitet sei das Greifswalder Vorgehen in Deutschland nicht, so Gründling. Das könne auch mit dem Makel zusammenhängen, der einer Sepsis anhängt. Sie könnte schließlich etwas mit schlechter Hygiene zu tun haben, mit multiresistenten Keimen. „Damit will kein Krankenhaus in Verbindung gebracht werden“, so Gründling. „Auf Vorträgen bekomme ich von Ärzten oft zu hören: ,Bei uns ist die Sepsis nicht so ein Problem.‘“ Auch auf dem Totenschein tauche die Diagnose Sepsis meist nicht auf. Als Todesursache wird zum Beispiel die Lungenentzündung angegeben.

Julia Schiedermaier hat die Sepsis überlebt, aber ihr Leben ist heute ein anderes. Die Beine wurden ihr bis zur Mitte der Wade amputiert, auch alle Fingerspitzen. Das Laufen mit Prothesen lernt sie gerade. „Hätte ich nach dem Aufwachen aus dem Koma geahnt, was noch auf mich zukommt – ich hätte wahrscheinlich die Segel gestrichen“, sagt Schiedermaier.

Einmal, erzählt sie, gab es diesen Moment in der Klinik. „Ich dachte, wenn du jetzt die Schläuche ziehst, ist es vorbei. Aber nicht einmal dazu war ich in der Lage. Ich war viel zu schwach.“ Was der Auslöser für die Blutvergiftung war, lässt sich nicht sagen. Die Ärzte vermuten die Kombination einer unbehandelten Streptokokken-Infektion gepaart mit einer beginnenden Grippe.