Braunschweig. Zukunftsforscher Stephan Rammler spricht im Interview über Mobilität von morgen und kritisiert die Automobilindustrie scharf.

1,45 Millionen Kilometer Stau gab es laut einer Staubilanz des ADAC im vergangenen Jahr – das ist fast viermal die Strecke zum Mond und zurück. In Innenstädten sind Staus oft Ergebnis einer schlechten Parkplatzsituation. Wie muss die Mobilität der Zukunft gestaltet werden, ohne in überfüllten Straßen und Feinstaub zu versinken? Über nachhaltige Mobilität und innovative Mobilitätsdienstleistungen sprach Volontärin Julia Popp mit Stephan Rammler. Er ist Mobilitäts- und Zukunftsforscher und Professor für Transportation Design und Social Sciences an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig.

Mobilitäts- und Zukunftsforscher Stephan Rammler.
Mobilitäts- und Zukunftsforscher Stephan Rammler. © Archiv

Herr Rammler, in ihrem aktuellen Buch „Volk ohne Wagen“ plädieren Sie für eine neue Mobilität. Wie stellen Sie sich diese vor?

Wir können schon jetzt beobachten, dass sich die Anforderungen an das Automobil weltweit enorm verändern. Das geht weg vom Verbrennungsmotor hin zur E-Mobilität, vom Selbst-Steuern hin zur Automatisierung und vom Selbst-Besitzen hin zur Sharing Economy. Die Frage ist jetzt, wie wir diesen Transformationsprozess gestalten.

Das heißt?

Bei der neuen Mobilität geht es nicht darum, auf das Auto zu verzichten, sondern darum, neue Nutzungsformen zu entwickeln. Das Motto heißt: „pay as you use it“. Das heißt, Autos werden nicht mehr nur von einer Person gekauft und benutzt. Verbraucher bezahlen vielmehr für den einzelnen Weg mit einem Auto, das ihnen aber nicht mehr gehört. Das wäre zum Beispiel auf dem Weg zur S-Bahn oder zum Bahnhof sehr sinnvoll.

Dafür muss aber auch der Kollektivverkehr gut ausgebaut sein. Denn kein Verkehr der Zukunft wird wirklich nachhaltig sein, wenn er nicht auf die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Verkehrsmittel wie Busse, U-Bahn oder S-Bahn setzt und diese mit der neuen Automobilität verbindet. Wenn wir diese Transportmittel elektrifizieren, kann das eine gute Sache werden.

Ende Oktober berichtete unsere Zeitung, dass Volkswagen bis 2025 jedes zweite Auto als SUV verkaufen möchte. Ist das der richtige Schritt zur neuen Mobilität?

Nein, in Zeiten massiver Klimaprobleme und wachsender Ressourcenknappheit ist das wie das berühmte Gasgeben in der Sackgasse. Die Konzerne sind einerseits Getriebene der Marktnachfrage, andererseits könnten sie sich als echte Partner für umfassende politische Lösungen anbieten. Der Umgang in Sachen Dieselthematik zeigt allerdings, dass die Unternehmen da wohl noch einen weiten Weg zur Veränderung ihrer Organisationskultur vor sich haben.

Neue Mobilität ist in Großstädten sicherlich einfacher umzusetzen. Welche Lösungen braucht es auf dem Land?

Grundsätzlich lassen sich viele Konzepte der neuen Mobilität auch auf dem Land umsetzen. Der Unterschied ist nur, dass das Auto in ländlichen Regionen immer eine wichtige Rolle spielen wird, weil es wenig oder schlecht ausgebaute Alternativen gibt. Aber auch diese Art der Mobilität auf dem Land kann moderner und nachhaltiger werden.

Neue Mobilität im ländlichen Raum ist aber nicht von heute auf morgen machbar – wir können den Leuten nicht einfach das Auto wegnehmen. Deswegen müssen wir anfangen, die Alternativen zum Auto auszubauen. Das können auch flexible Angebote sein, die sich stärker an die Mobilitätsbedürfnisse der Bevölkerung auf dem Land anpassen.

Zum Beispiel?

Die Rede ist von Anruf-Bussen oder Ride-Sharing-Konzepten. Gemeint ist damit, dass man sich ein Auto auf einer Strecke teilt und die Mitfahrer zuhause oder an Sammelpunkten abholt. Das Prinzip ist ähnlich wie beim Car-Sharing, nur dass ein Auto nicht alleine angemietet wird. Die Idee ist, dass bei diesem Konzept fünf, sechs Einzelfahrten in einem Auto substituiert werden. Dadurch könnte der automobile Verkehr minimiert werden. Das ist keine Frage der Fahrzeugtechnologie sondern der intelligenten Vernetzung.

Früher war es so: Der Bus fuhr zu einer bestimmten Zeit an einer bestimmten Bushaltestelle im Ort ab. In Zukunft wäre es eher so: man drückt auf einen Bestellknopf und wird abgeholt. In meinen Augen ist das in ländlichen Regionen genauso machbar wie in Städten. Früher hatte man ohnehin Fahrgemeinschaften. Das hat damals funktioniert, warum soll das heute nicht funktionieren?

Welche Möglichkeiten gibt es noch?

Denkbar ist auch, über neue Konzepte des beruflichen Pendelns nachzudenken. Nicht jeder Angestellte muss jeden Tag ins Büro fahren. Es gibt Berufe, in denen es möglich wäre, zwei, drei Tage in der Woche zuhause oder in einem lokalen Telependelzentrum zu arbeiten.

Welche Wünsche haben sie diesbezüglich an die Politik?

Dass die Infrastruktur, die wir für die digitale Vernetzung brauchen, auch gebaut wird. Das Ganze kann nur funktionieren, wenn wir leistungsfähige Dateninfrastrukturen in ländlichen Regionen haben – und das verpennt die deutsche Regierung gerade wieder.

Ich behaupte, dass mit dem Ausbau digitaler Infrastrukturen ein enormer Innovationsimpuls in allen Regionen Deutschlands entstehen würde. Ride-Sharing funktioniert beispielsweise nur dann gut, wenn die Vernetzung von Angebot und Nachfrage auch stattfinden kann.

Und welche Rolle kommt dem Konsumenten zu?

Solange man politisch nicht den Mut hat, den Verbraucher zu regulieren – zum Beispiel in Richtung Elektromobilität zu gehen – dann wird auch keine E-Mobilität nachgefragt. Die Voraussetzung dafür ist wiederum, dass die Verbraucher die Ladeinfrastrukturen vorfinden, die ihnen den Wechsel ermöglichen. Nur in enger Absprache und Kooperationsbereitschaft zwischen Politik, Verbrauchern, Gewerkschaften und Unternehmen kann man eine Mobilitätswende steuern.

Welche Konsequenzen hätte diese neue Mobilität für die Automobilbranche, wenn weniger Autos produziert werden? Die Rede ist ja oft von Massenentlassung.

Das ist eine unnötige Drohgebärde der Automanager und Gewerkschaften gegenüber der Politik und der politischen Öffentlichkeit. Fakt ist, dass die deutsche Autoindustrie sowieso nach wie vor Beschäftigung von Deutschland zu den Absatzmärkten verlagert, weil dort kostengünstiger und näher am Endverbraucher produziert wird und Transportkosten gespart werden.

Fakt ist auch, dass die stetige Automatisierung der Produktion schon jetzt Beschäftigung kostet. Da kräht kein Hahn nach. Doch immer dann, wenn es um Nachhaltigkeit geht, wird über Massenentlassungen gesprochen. Das ist zukunftsblind. Denn Nachhaltigkeit ist ein nötiges Innovationsprinzip für eine Welt, in der in Zukunft elf Milliarden Menschen unter völlig anderen Bedingungen leben werden als zu Beginn der Autoepoche. Natürlich kostet Elektromobilität Beschäftigung, weil sie nicht mehr so arbeitsintensiv ist. Auch die neue Mobilität kostet Beschäftigung, weil sie im Idealfall dazu führt, dass weniger Fahrzeuge sehr viel effizienter genutzt werden. Wichtig ist es vor diesem Hintergrund, schon jetzt darüber nachzudenken, wie wir kluge Strategien entwickeln können, um mit den Beschäftigungsverlusten umzugehen.

Wie stellen Sie sich das konkret vor?

Durch Abfindungen und altersbedingte Ausstiege werden nicht alle Stellen wieder besetzt. Für junge Menschen, die Beschäftigung in der Region suchen, müssen Jobs in anderen Branchen geschaffen werden. Das können wir schaffen, in dem wir auf Basis digitaler Innovationen neue Servicemodelle entwickeln, indem wir zum Beispiel Start-Ups und Firmen gründen.

Was glauben Sie, wie kommen wir in 50 Jahren ans Ziel?

Ich kann mir eine gut vernetzte Mobilität vorstellen, die in den Städten zuerst gelingen wird und dann auf das Land ausgreift. Aber das hängt alles stark davon ab, welche Entscheidungen wir als Politik, Unternehmen und Verbraucher heute treffen.

Einer der wichtigsten Schritte ist jetzt, schnell die digitale Basisinfrastruktur aufzubauen.