Essen. Der Tischtennis-Star ist zum zwölften Mal deutscher Meister. Vorher sprach die Nummer eins über die Weltrangliste und ihre Karriere.

Herr Boll, seit diesem Monat sind Sie wieder die Nummer 1 der Welt. Wann wurde Ihnen klar, dass das noch einmal möglich ist?

Timo Boll: Ich dachte eigentlich, dass ich keine Chance mehr dazu habe. Ich bin jetzt aber auch nicht so ein Kalkulator – wie zum Beispiel Dimitrij Ovtcharov. Er war es auch, der mir irgendwann geschrieben hat, dass ich ihn in dem und dem Fall als Nummer eins ablösen könnte. Und so ist es dann auch gekommen.

Hat er das gut weggesteckt oder war er sauer, dass Sie ihn verdrängt haben?

Boll: Nein, er wäre so oder so hinter Fan Zhendong gerutscht – da war es ihm schon lieber, dass ein Deutscher und dann auch noch ein Kumpel ihn an der Spitze überholt hat (lacht).

Was sagt es Ihrer Meinung nach über das deutsche Tischtennis aus, dass ein Deutscher einen anderen Deutschen an der Weltrangliste ablöst?

Boll: Das freut uns alle natürlich sehr. Doch noch mehr würde es uns freuen, wen da einer wäre, der meinen Platz einnehmen würde, wenn ich irgendwann aufhöre. Doch der ist noch nicht in Sicht. Auch wenn insgesamt alle hart arbeiten und es sicher ein Vorteil ist, dass die jungen Spieler mit uns trainieren und an uns erleben, was wichtig ist, um in dem Sport erfolgreich zu werden.

Die Aufmerksamkeit, die Sie derzeit erhalten, kann für Ihren Sport ja aber auch nur gut sein, oder?

Boll: Ja, mit den Schlagzeilen, die wir jetzt hatten, können wir sehr gut leben. Das ist nicht selbstverständlich und ein gutes Gefühl und wir haben viel Selbstvertrauen getankt – gerade durch die Siege gegen die Chinesen.

Dimitrij Ovtcharov stand jetzt zwei Monate an der Spitze der Welt. Von der Weltrangliste profitieren jetzt vor allem die Spieler, die viele Turniere spielen. Ist die Tatsache, dass sich die Nummer eins jetzt schon wieder geändert hat, auch ein Ausdruck von einer neuen Geschwindigkeit?

Boll: Ja, die Geschwindigkeit ist schon neu. Wenn man mal eine kurze Pause macht oder sich verletzt, hat man schon keine Chance mehr, oben zu stehen. Momentan ist das nicht so dramatisch. Aber Sorgen muss man sich in den Monaten vor den Olympischen Spielen machen – wenn die Weltrangliste darüber entscheidet, wer sich für die Spiele qualifiziert.

Dann könnte der neue Modus also zu einem ernsthaften Problem werden?

Boll: Man muss Respekt davor haben. Man muss sich mal vorstellen, was los wäre, wenn Japans Spitzenspieler Jun Mizutani sich in der Phase vor Olympia verletzten würde und dadurch die Heim-Spiele in Tokio verpasst…

Tut sich der Weltverband ITTF denn dann mit der neuen Regelung überhaupt einen Gefallen?

Boll: Die ITTF macht das schon clever. So ist es sehr einfach, die Spieler für ihre Turniere auf der Tour zu verpflichten. Die meisten Spieler sind abhängig von der Weltrangliste. Sei es wegen der Qualifikation für große Events oder auch gegenüber Ausrüstern oder Sponsoren, weil diese sie ja nach Position in der Weltrangliste unterstützen. Gerade die Topspieler nehmen nicht wegen der Preisgelder an den Tour-Turnieren teil. Ma Long zum Beispiel ist in China mehrfacher Millionär, der braucht nicht jede 15 000 Euro Siegprämie. Doch da sagt jetzt halt der Verband ganz klar: Ihr spielt jetzt alle Turniere, damit China wieder an die Spitze der Weltrangliste kommt.

Wie halten Sie das?

Boll: Als älterer Spieler muss ich zunächst mal auf meinen Körper hören. Da kann ich nicht einfach alles spielen. Und ich habe auch eine Verpflichtung gegenüber dem Verein, der mich auch bezahlt. Da kann ich nicht sagen, ich spiele jetzt nur noch auf der Tour und nicht mehr für den Verein.

Was sagt die Weltrangliste dann noch über die Spielstärke aus?

Boll: Sie ist auf jeden Fall nicht mehr so aussagekräftig wie vorher. Aber wir Spieler müssen uns damit jetzt arrangieren. Die ITTF wird das vorerst nicht mehr ändern.

Aber wenn sich ihre Stars wie Sie zum Beispiel jetzt doch sehr kritisch äußern – müsste das den Weltverband nicht zum Nachdenken bringen?

Boll: Dafür sind wir Spieler eigentlich nicht gut genug organisiert, um wirklich Druck ausüben zu können. Es gibt da keine Spielervereinigung – und zu viele unterschiedliche Interessen. Es gibt ja auch genügend Spieler, die ganz klar von der neuen Regel profitieren: gerade die Jungen aus der zweiten Reihe, die jetzt viel spielen können und sich so hocharbeiten.

Was bedeutet das für Sie?

Boll: Es ist ja zum Beispiel möglich, dass wenn Dima und ich in dem Jahr vor Olympia nur wenig spielen und beispielsweise ein Ricardo Walther so stark wird, dass er auf der Tour viele Runden gewinnt – dann würde er zu Olympia fahren und im Zweifel Dima oder ich nicht. Den Verbänden sollte es aber eigentlich daran gelegen sein, zu solchen Events ihre stärksten Spieler zu schicken… Aber ich will auch nicht nur über die Weltrangliste meckern. Es ist so wie es ist und in der alten Weltrangliste hätte ich auch wahrscheinlich nicht noch einmal die Chance gehabt, Nummer eins zu werden. Nummer zwei vielleicht, aber vorne war Ma Long als Weltmeister und Olympiasieger längst enteilt.

An der Stelle ist es übrigens interessant, dass nicht nur Sie momentan mit 36 Jahren die Tischtennis-Weltrangliste anführen, sondern Roger Federer im gleichen Alter die Tennis-Weltrangliste. Was sagen Sie zu dem Vergleich?

Boll: Das ist ein schöner Vergleich für mich. Er ist auch ein sehr erfahrener Spieler. Er ist immer bei sich geblieben und hat das Spiel doch weiterentwickelt. Es ist schön, dass unsere Karriere so lange so erfolgreich verlaufen und wir den Spaß noch nicht verloren haben.

Federer ist gerade erst in Monaco als Sportler des Jahres ausgezeichnet worden. Bei seiner Ehrung fielen Worte, die auch sie oft beschreiben: fair, bodenständig, aufrichtig, ehrgeizig.

Boll: (lacht) Ja? Ich kenne ihn zwar nicht persönlich, aber er ist auf jeden Fall jemand, dem man nacheifern darf. Er ist ein feiner Kerl.

Zurück zum Alltag: In Berlin starten Sie am Wochenende als Titelverteidiger bei den Deutschen Meisterschaften – und als Nummer eins der Welt. Welchen Stellenwert hat das Turnier für Sie?

Boll: Es hat den gleichen Stellenwert wie vorher auch – nur muss ich keinen Rekorden mehr nachjagen, die habe ich ja jetzt (lacht). Für mich ist es vor allem eine Vorbereitung auf das Halbfinale mit Borussia Düsseldorf in der Champions League. Ich habe jetzt ein bisschen Pause gemacht und brauche Spielpraxis. Mir fehlen sicher noch ein paar Prozent, wir werden sehen, ob es reicht. Aber wenn ich hinfahre, will ich natürlich auch gewinnen.

Fühlen Sie sich durch die neue Weltrangliste unter Druck gesetzt, mehr spielen zu müssen?

Boll: Man steht schon stark unter Druck, aber ich lasse das nicht an mich heran. Früher wäre das sicher anders gewesen. Aber ich muss in erster Konsequenz auf meinen Körper hören und genau überlegen, was ich spiele. So ein Pensum wie im letzten Dreivierteljahr werde ich auf Dauer nicht noch einmal durchstehen. Da kommt dann irgendwann zu 120 Prozent der große Knall. Ich werde mich nicht zerstören.

Was treibt Sie an immer noch weiterzumachen?

Boll: Das erste ist der Spaß am Spiel. Ich will noch ein paar Jahre auf diesem Topniveau spielen. Momentan funktioniert es: In den vergangenen zwölf Monaten habe ich unfassbar gut gespielt, habe gar kein schlechtes Ergebnis unter den acht Ergebnissen gehabt, die jetzt in die Weltranglistenwertung eingegangen sind.

Wann wird China denn auf die derzeitige deutsche Dominanz reagieren?

Boll: Die Chinesen haben jetzt die Vorgabe, jedes Turnier zu spielen. Da eifern sie den Japanern nach, die ihre Leute überall hinschicken. Ich denke auch, dass Fan Zhendong jetzt sehr gute Ergebnisse einfahren und mich dann direkt an der Spitze ablösen wird. Sie haben einfach ein unfassbar hohes Niveau – da kann man noch so viel von Krise oder Trainerwechsel reden.

Aber schlägt jetzt bei der WM in diesem Jahr nicht die große Stunde für Deutschland, China endlich zu schlagen – gerade wo Sie und Ovtcharov in so bestechender Form sind?

Boll: Naja, besser werden wir nicht mehr (lacht). Natürlich muss da wieder alles zusammenpassen und wir müssen zu dem Zeitpunkt beide in absoluter Topform sein.