Innsbruck. Nur Sven Hannawald hat jemals alle vier Springen einer Vierschanzentournee gewinnen können. Dieses Jahr gerät sein Rekord in Gefahr. Darum wünscht er Richard Freitag besonders viel Glück.

In Innsbruck wird es stürmisch. Am Tag vor dem dritten Springen der Vierschanzentournee (Donnerstag, 14 Uhr/ZDF) pfeift ein strammer Wind rund um die Bergisel-Schanze. Schwierige Bedingungen für die besten Skispringer der Welt, es könnte wie schon in Oberstdorf ein unvorhersehbarer Wettbewerb werden. Sven Hannawald spielt das in die Karten. Der 43-Jährige hat 2002 bisher als Einziger alle vier Springen bei einer Tournee gewonnen – daran würde Hannawald, der die Tour für Eurosport als Experte begleitet, am liebsten gar nichts ändern.

Herr Hannawald, was bedeutet Ihnen Einzigartigkeit im Leben?

Sven Hannawald: Jeder Mensch lebt von seiner besonderen Art, von seiner Einzigartigkeit. Man wird aber doch immer wieder von außen beeinflusst, erlebt Dinge, die besser sind, und hat das Gefühl, diese Dinge nachahmen zu müssen. Aber Sie meinen das eher in Bezug auf die vier Springen bei der Tournee, oder?

Im Skispringen sind Sie einzigartig – bisher jedenfalls.

Sven Hannawald: Ich lebe gerne in der Gemeinschaft, aber als Sportler war ich es gewohnt, mir Ziele zu setzen und diese zu erreichen, wodurch sich Einzigartigkeit ergibt. Darauf kann man dann auch stolz sein.

Das können Sie ja auch bleiben, denn Ihre Leistung kann nicht verbessert, sondern nur wiederholt werden.

Sven Hannawald: Das stimmt beim Grand Slam natürlich. Ich bin ehrlich: Ich fiebere immer mit, dass ich der einzige bleibe, der das geschafft hat. Für mich persönlich, aber auch für die gesamte Tournee, habe ich es eigentlich am liebsten, wenn es nach Garmisch schon den zweiten Sieger gibt.

Und jetzt sieht es so aus, als wären Ihre vier Siege 2001/2002 kein Rekord für die Ewigkeit, sondern nur einer für 16 Jahre.

Sven Hannawald: Es war ja schon 2004/2005 so richtig knapp, als Janne Ahonen allen anderen Springern voraus war und am Ende Martin Höllwarth noch in Bischofshofen gewann. In diesem Jahr scheint es so, als würde Kamil Stoch eine eigene Tourneegeschichte schreiben. Ihn zeichnet eine unglaubliche Stabilität aus, er trotzt allen Widrigkeiten und strahlt eine immense Ruhe nach außen aus.

Wenn Stoch in Innsbruck gewinnt, was würden Sie dann am 6. Januar in Bischofshofen nach einem möglichen vierten Sieg machen?

Sven Hannawald: Wenn es dazu kommt, dass er alle Springen gewinnt, bin ich der Erste, der gratuliert. Weil ich weiß, was alles dazu gehört. Streng genommen hat es am Ende wenig mit Skispringen zu tun. Spätestens nach dem dritten Sieg in Innsbruck setzt sich ein unglaubliches Gedankenkino in Gang.

Man sagt in solchen Drucksituationen immer: Kopf ausschalten. Geht das überhaupt? Was denkt man vor dem letzten Sprung in Bischofshofen?

Sven Hannawald: Man will einfach nur noch, dass es vorbei ist. Wie es ausgeht, ist dabei fast egal, denn man möchte ja einfach nur skispringen. Man hofft, dass der Sprung einigermaßen gelingt, denn richtig konzentrieren kann man sich eh nicht mehr.

Würde es Sie denn ärgern, wenn Stoch das gleiche Kunststück gelingen würde?

Sven Hannawald: Ich gehe jetzt nicht nach Hause und drehe vollständig durch (lacht).

Werden Sie Richard Freitag noch ins Gewissen reden, dass er wenigstens ein Springen gewinnt?

Sven Hannawald: Nein, ich werde da keinen wild machen und Unruhe reinbringen. Richard hat definitiv noch sehr sehr gute Chancen, endlich nach so vielen Jahren die Tournee für Deutschland zu gewinnen. Allerdings hat Stoch nach der ersten Weltcup-Periode aufgeholt. Ich sehe die beiden als alleinige Entscheider der diesjährigen Tournee. Es würde mich wundern, wenn sich an dem nochmal was drehen sollte und ein Dritter dazu käme.

Stoch ist mit Jens Weißflog, Thomas Morgenstern, Espen Bredesen und Matti Nykänen im elitären Zirkel fünf Springer, die Weltmeister und Olympiasieger waren, die Tournee und den Gesamtweltcup gewonnen haben. Würde der Grand Slam ihn zum besten Springer der Geschichte machen?

Sven Hannawald: Ich mag solche Vergleiche nicht, denn jeder Springer muss für seine Zeit gesehen werden. Hört ein Springer auf, ist das Kapitel abgeschlossen und für mich auch nicht mehr vergleichbar. Für mich und auch andere Springer kann ich wohl sagen, damit gut zu leben, einer der Besten gewesen zu sein - aber den einen Besten gibt es nicht.

Denken Sie noch heute an den Winter 2001/2002?

Sven Hannawald: Ja, der macht mich ja aus. Die Tournee war für mich als Junge der Startpunkt, weshalb ich mit dem Skispringen beginnen wollte. Wenn du dir dann den Traum erfüllen kannst, die Tournee zu gewinnen, bist du der glücklichste Mensch auf Erden. Dieses Gefühl als kleiner Junge ist in mir geblieben, auch wenn einige schlechte Jahre dann dabei waren. Eine Stimme in mir hat aber immer gesagt: Mach weiter.

Zwei Jahre danach ging es Ihnen gar nicht gut, Sie hatten einen Burnout und beendeten Ihre Karriere. Mit welchem Gefühl, mit welchen Erinnerungen kommen Sie heute zu den Schanzen?

Sven Hannawald: Für mich ist das eine ganz analytische Rechnung: Umso höher man hinaus möchte, desto mehr muss man sich fordern. In meinem Fall war es extrem, ich war ja beinahe von Ehrgeiz und Perfektionismus zerfressen. Auf der anderen Seite habe ich meinen Jugendtraum gelebt. Dafür muss man viel bezahlen. In meinem Fall war es das Körperliche: Mir war frühzeitig bewusst, dass es mit dem Profisport nicht lange funktionieren würde.

Wäre es überhaupt ratsam für Severin Freund und Richard Freitag, wenn Sie nochmal so einen Boom auslösen würden wie Sie und Martin Schmitt einst?

Sven Hannawald: Einen ähnlichen Zuschauer-Boom in den Stadien erleben wir gerade. Das andere wird es so nicht mehr geben. Wir hatten mit RTL einen Fernsehsender, der uns gepusht hat. Die Öffentlich-Rechtlichen fahren ein anderes Konzept, sie informieren die Öffentlichkeit. Für einen Boom aber musst du Vollgas geben, die Sportart ins Dauerprogramm aufnehmen, damit die Leute aufmerksam werden. Die Sportler jetzt sind auch so oder so erfolgreich, aber das geht ein wenig unter.

Sie sind als Experte für Eurosport jetzt wieder ganz nah dran an Ihrem Sport. Worauf können sich die Zuschauer in Pyeongchang freuen?

Sven Hannawald: Wir gehen das ähnlich an wie damals RTL. Wir versuchen, den Zuschauern das komplette Programm zu bieten, mehr als nur die Sprünge zu zeigen. Sowohl im linearen TV als auch für die Neuzeitler im Onlinebereich, dass man da über den Play bis zu 16 verschiedene Schienen fahren kann. Das heißt, jeder Sportinteressierte kann den Wettkampf zu jeder Tages- und Nachtzeit verfolgen.

Ihre Springergeneration ist als Experte heute sehr gefragt: Andreas Goldberger macht fürs ORF noch immer Probesprünge, Sie und Martin Schmitt sind bei Eurosport, Dieter Thoma bei der ARD. Im Fußball sind Legendenspiele sehr angesagt. Wäre das nicht auch etwas für Skispringer?

Sven Hannawald: Es gibt ja Senioren-Weltmeisterschaften, wobei es den Teilnehmern dort leider vorher verwehrt geblieben war, den großen Erfolg zu holen. Wenn man aber mal mit dem Thema aktives Springen durch ist, hat man auch schon viele Nerven gelassen. Ich bin froh, beim Skispringen dabei sein zu dürfen - allerdings passiv. Jetzt mal das Drumherum zu sehen, ist einfach toll.