Wolfsburg. Der relative Alterseffekt führt dazu, dass früh im Jahr Geborene im Fußball-Nachwuchsbereich deutlich besser gefördert werden.

Dennis Kruppke wurde beim VfB Lübeck zum Fußballprofi, er spielte mit dem SC Freiburg und mit Eintracht Braunschweig in der Bundesliga. Eine beachtliche Karriere. Doch die hätte es fast gar nicht gegeben. „Ich war lange Zeit sehr klein“, erzählt der heute 40-Jährige. Körperlich konnte er mit den Gleichaltrigen kaum mithalten.

Bei der Landesauswahl, zu der Kruppke erst eingeladen wurde, als er mit 15 Jahren zu einem großen Verein wie dem VfB Lübeck wechselte, durfte er meist nur für die letzten Minuten ran. „Dann hieß es immer: ,Jetzt lassen wir den Kleinen auch mal spielen‘“, erinnert sich der 69-fache Bundesliga-Spieler.

Gewaltige Entwicklungsunterschiede im Jugendalter

„Du willst Erfolg haben und setzt die Spieler ein, die das am ehesten garantieren können“, sagt Dennis Kruppke, Leiter des Braunschweiger NLZ, über das Problem mit körperlich benachteiligten Spielern.
„Du willst Erfolg haben und setzt die Spieler ein, die das am ehesten garantieren können“, sagt Dennis Kruppke, Leiter des Braunschweiger NLZ, über das Problem mit körperlich benachteiligten Spielern. © BestPixels.de | Philipp Ziebart

Das ist bei weitem kein Einzelfall. Bei Kruppke ist es gut ausgegangen. Sein Talent wurde entdeckt und dann gefördert. Doch vielen Jungen und Mädchen ergeht es anders. Weil sie zu spät im Jahr geboren wurden. Das ist in der Nachwuchsförderung und -ausbildung inzwischen als großes Problem erkannt worden. Schuld ist der feste Stichtag im Jugendfußball, der seit 1997 der 1. Januar ist. Das heißt im Extremfall: Jemand, der am ersten Tag des Jahres geboren wurde, spielt im selben Team wie jemand, der am letzten Tag des Jahres zur Welt kam, und ist damit fast ein Jahr älter.

Im Jugendalter kann das gewaltige Entwicklungsunterschiede nach sich ziehen, was die Körpergröße, die Kraft und das Durchsetzungsvermögen angeht. Früher Geborene sind hier klar im Vorteil. Einen Namen hat das Problem auch: Experten sprechen vom „relativen Alterseffekt“.

Top-Spieler setzen sich meist durch – aber Talente könnten früh aufgeben

In England ist das Phänomen bereits länger bekannt. In Deutschland landete es erst vor ein paar Jahren auf dem Radar der Verantwortlichen der Klubs und des Deutschen Fußball-Bundes. Meikel Schönweitz ist beim DFB Cheftrainer der U-Nationalmannschaften. „Es stellt grundsätzlich ein Problem dar, wenn retardierte Spieler keine Einsatzzeiten bekommen und aufgrund ihrer aktuellen körperlichen Entwicklung nicht berücksichtigt werden“, erklärt der 41-Jährige.

Zwar setze sich am Ende Qualität immer durch. „Topspieler sollten irgendwann einen Weg finden“, sagt Schönweitz. „Es besteht allerdings die Gefahr, dass Spieler bereits früh ,die Flinte ins Korn werfen‘ oder dass ihnen auf ihrem Weg zu viele Einsatzzeiten, die für ihre Entwicklung wichtig wären, genommen werden.“

Mat Hummels, geboren im Dezember, konnte kaum mithalten

Beispiele dafür gibt es viele. Auch sehr prominente. Mats Hummels etwa stand mit 14 Jahren am Scheideweg. Er war zwar groß, aber zu dünn und konnte körperlich kaum mithalten mit seinen Teamkollegen. Sein Geburtsdatum: 16. Dezember. Hummels war stets einer der Jüngsten in seinem Jahrgang. Erst mit 18 Jahren wurde er erstmals für eine deutsche U-Nationalmannschaft nominiert. Mit inzwischen 32 Jahren blickt Hummels auf über 300 Einsätze in der Bundesliga zurück, wurde mehrfach deutscher Meister und Pokalsieger sowie Weltmeister 2014. Beim Titelgewinn in Rio de Janeiro war der Verteidiger der einzige Spieler im 22er Kader, der im Dezember Geburtstag hat.

Besonders deutlich wird der relative Alterseffekt beim Blick auf die Auswahlteams des DFB. Denn wer in seinem Verein mehr spielt, mehr Zeit bekommt, sich anzubieten, der wird auch häufiger zu Lehrgängen eingeladen. In den aktuellen Kadern der drei ältesten Juniorenteams (U19, U18 und U17) haben 38 von 71 Spielern in den ersten drei Monaten des Jahres Geburtstag. Nimmt man das zweite Quartal noch mit in die Rechnung, sind es sogar 51 von 71 Spielern. Eine deutliche Abweichung von der Norm. Denn deutschlandweit werden die meisten Kinder in den Sommermonaten geboren. Das müsste sich auch in den Kadern der U-Teams widerspiegeln. Tut es aber nicht.

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© Jürgen Runo

DFB reagiert, um dem Trend entgegen zu wirken

„Wir machen uns viele Gedanken, wie wir eine verbesserte Talentgerechtigkeit forcieren können“, sagt Meikel Schönweitz, Cheftrainer der deutschen U-Nationalteams, über den Kampf gegen den relativen Alterseffekt
„Wir machen uns viele Gedanken, wie wir eine verbesserte Talentgerechtigkeit forcieren können“, sagt Meikel Schönweitz, Cheftrainer der deutschen U-Nationalteams, über den Kampf gegen den relativen Alterseffekt © Horstmüller | imago

Um dem Trend entgegenzuwirken, hat der DFB reagiert. Erste Maßnahmen wurden eingeleitet. „Beispielsweise wurden bei den U-Nationalmannschaften extra Perspektiv-Lehrgänge für spätgeborene und retardierte Spieler eingeführt“, berichtet Schönweitz. Zudem nimmt an den regelmäßigen Sichtungsturnieren eine Mannschaft mit spätgeborenen Perspektivspielern teil. „Wir machen uns in der Tat auch über die bereits getroffenen Maßnahmen hinaus viele Gedanken, wie wir eine verbesserte Talentgerechtigkeit forcieren können“, so der U-Cheftrainer. Aber: Allein kann der DFB das nicht. Da sind Regional- und Landesverbände ebenso gefragt wie die Klubs mit ihren Nachwuchsleistungszentren.

Auch beim VfL Wolfsburg ist das Thema akut. Im aktuellen Kader der U19 hat fast die Hälfte der Spieler im ersten Quartal Geburtstag. Bedeutet im Umkehrschluss: Einige Talente, die möglicherweise großes Potenzial mitbringen, aber körperlich Nachholbedarf haben, sind auf dem Weg bis dorthin höchstwahrscheinlich auf der Strecke geblieben. Der Bundesligist hat zudem das sogenannte Topspieler-Prinzip zur Philosophie erhoben.

VfL Wolfsburg will sich zum relativen Alterseffekt nicht äußern

Dabei handelt es sich um eine „Differenzierung einer Elite innerhalb der Elite“, so ist es auf der VfL-Homepage zu lesen. Die stärksten Spieler (und das sind gerade in den jüngeren Jahrgängen oft die, die körperlich am weitesten sind) werden in einen Förderkader berufen. Ob die Wolfsburger bereits ein Problembewusstsein für die Folgen des relativen Alterseffekts entwickelt haben, ist unklar. Pablo Thiam, der Nachwuchschef des Bundesligisten, wollte sich auf Nachfrage nicht zu dem Thema äußern.

Ein paar Kilometer entfernt ist man da schon weiter. Im Nachwuchsleistungszentrum von Eintracht Braunschweig ist die Problematik bekannt. Dort sitzt ebenjener Kruppke am Ruder, der selbst früher für zu klein befunden wurde. „Von daher kann ich das gut nachvollziehen“, sagt der Ex-Profi, der erklärt: „In den vergangenen zwölf Monaten haben wir uns intensiv damit beschäftigt. Wir gehen damit offen um und versuchen, das in unseren Trainingsalltag einzugliedern.“

Eintracht Braunschweig fördert die Spätgeborenen besonders

Jeden Dienstag, so der Ablauf, bevor die Corona-Pandemie alles zum Erliegen brachte, steht in Braunschweig die Förderung der spätgeborenen Spieler im Mittelpunkt der Trainingsgestaltung. Das Ziel ist klar formuliert: Jedes Talent soll möglichst individuell gefördert und auf körperliche Nachteile Rücksicht genommen werden. „Den Kreislauf kennen wir ja“, sagt Kruppke. „Du willst Erfolg als Mannschaft haben, und daher setzt du die Spieler ein, die das am ehesten garantieren können, weil sie am weitesten sind.“ Und so könne es passieren, dass auch talentierte Kicker früh aussortiert werden.

Ein Stichwort dabei ist Bio-Banding. Nach diesem Konzept werden Spielerinnen und Spieler im Training und Wettkampf nicht nach ihrem kalendarischen, sondern nach ihrem biologischen Alter eingeteilt. Das soll, so die Befürworter, die Chancengleichheit in der Nachwuchsförderung erhöhen. Im englischen Fußball ist das bereits Alltag. „Das relative Alter entspricht selten dem biologischen Alter“, weiß DFB-Trainer Schönweitz. „Es gibt mehrere Methoden zur Bestimmung der biologischen Reife, die aber im Moment noch zu aufwendig sind, um sie auf alle Spieler deutschlandweit anzuwenden. Der Prozess ist aber angestoßen.“ Eine Methode, die auch beim DFB zur Anwendung kommt: Ärzte können anhand der Vermessung der Mittelhandknochen das biologische Alter der Talente bestimmen. Doch dieses Verfahren ist teuer.

In der Nachwuchsförderung spielt Geld eine große Rolle

Geld spielt auch in der professionellen Nachwuchsförderung eine Rolle. Der Unterhalt eines Leistungszentrums, zu dem die Klubs aus der 1. und 2. Liga verpflichtet sind, ist nicht billig. Der Druck ist da, dass sich das Investment rentiert und die Einrichtung Spieler hervorbringt, die entweder den Sprung in den eigenen Profikader schaffen oder zumindest durch Ablösen einen Teil der Ausgaben refinanzieren.

Mitunter werden die Talente im Alter von 14 bis 18 Jahren schon aggressiv von anderen Klubs abgeworben. Und jemand, der körperlich hinterherhinkt, bloß weil er jünger ist als seine Mitspieler, hat es schwer auf diesem Weg. „Das ist auch eine Nische für uns“, glaubt Kruppke. „Wir haben nicht die finanziellen Möglichkeiten wie andere Klubs, fertige Spieler von außen zu holen. Bei uns können wir Spielern aber die Zeit geben, um ihre Defizite auszugleichen.“

Mit frotschreitendem Alter gleicht die Natur mögliche Defizite aus

Zeit ist ein wesentlicher Faktor beim relativen Alterseffekt. Denn je älter die Spieler werden, umso mehr gleicht die Natur mögliche Defizite aus. Doch bis der Wachstumsschub einsetzt, ist es für den einen oder anderen schon zu spät. Sie fallen trotz Talents durchs Raster. Aber: Es gibt auch den umgekehrten Fall. „Es gibt ausreichend Beispiele dafür, dass zwischenzeitliche physische Nachteile zu einem gewissen Zeitpunkt dazu geführt haben, dass Spieler mehr Durchsetzungsvermögen oder Widerstandsfähigkeit entwickelt haben“, sagt Schönweitz. Doch dieser Effekt verpufft, wenn die Betroffenen zu wenig Spielzeit bekommen. An der Stelle sind auch die jeweiligen Trainer gefragt. Sie müssen gut genug geschult sein, um ein solches Talent zu erkennen.

Der DFB-Cheftrainer erklärt diesen umgekehrten Effekt: „Um sich gegen körperlich stärkere Spieler durchzusetzen, wurden individuelle Lösungen gefunden, was einen positiven Einfluss auf die Entwicklung von Kreativität hatte.“ Schönweitz‘ Fazit: „Es ist also nicht so, dass es nur Nachteile gibt.“ Ein Beispiel für einen solchen Spielertyp war Philipp Lahm. Sein Geburtsdatum: 11. November.

Intelligenz statt Physis – Bestes Beispiel: Philipp Lahm

Der deutsche Weltmeister-Kapitän von 2014, achtmalige deutsche Meister und Champions-League-Sieger ist von der Statur schmächtig, zudem auch nur 1,70 Meter groß. Lahm hatte damit schlechte Voraussetzungen und hat es dennoch ganz nach oben geschafft. Er galt jahrelang als bester Außenverteidiger der Welt. Körperliche Defizite machte der heute 37-Jährige mit seinem intelligenten Stellungsspiel und Zweikampfverhalten wett. Pep Guardiola, der ihn drei Jahre lang beim FC Bayern trainierte und aktuell bei Manchester City an der Außenlinie steht, bezeichnete Lahm einmal als „intelligentesten Spieler“, den er je trainiert habe.

Spät im Jahr geboren zu sein, bedeutet demnach nicht, dass die Betroffenen gar keine Chance haben, Fußball-Profi zu werden. Und umgekehrt ist es kein Automatismus, dass Frühgeborene den Sprung schaffen. Natürlich beeinflussen viele weitere Faktoren, wie sich junge Spieler und Spielerinnen entwickeln. Doch der relative Alterseffekt sorgt messbar dafür, dass es Spätgeborene ein Stück weit schwerer haben.

So wie auch Dennis Kruppke, der trotzdem noch eine beachtliche Karriere hinlegte, obwohl er in der Landesauswahl aufgrund seiner körperlichen Nachteile kaum spielte. „Erst später habe ich in einem Test gegen die Auswahl vom Niederrhein mal vier Tore geschossen. Von da an hat man mich dann anders gesehen“, erinnert sich der 40-Jährige. Das zeigt: Tore sind im Fußball immer noch die beste Währung – Alterseffekt hin oder her.