Pecs. Braunschweig gewinnt bei der WM im Standard-Formationstanzen in Ungarn Bronze. Doppelsieg für Russland.

Für ein, zwei Sekunden wirken die Gesichter der Braunschweiger Tänzerinnen und Tänzer wie versteinert. Platz drei steht da auf der riesigen Videoleinwand und ist nicht mehr wegzutanzen. Als Titelaspirant war die Mannschaft des Braunschweiger TSC ins ungarische Pecs zur Weltmeisterschaft im Standard-Formationstanzen gereist. Und nun das.

Aber es gab keine einzige Träne bei den Vizeweltmeistern des Vorjahres, kein Fluch begleitete ihre Enttäuschung. Selbst die ließen sie sich nicht anmerken. Und als die Siegerehrung vorbei war, gratulierten sie den vor ihnen Platzierten mit einem Lächeln. So stellt man sich das vor, wie sich wahre Champions in der Niederlage verhalten sollten.

Dabei war so viel Pech im Spiel. Zunächst mussten sich die Braunschweiger um die Winzigkeit von 0,01 Punkten im Rennen um Platz zwei geschlagen geben. Somit gab es einen historischen Doppelsieg der russischen Teams, den ersten in der Geschichte dieses Sports, Titelverteidiger Vera Tyumen gewann den dritten WM-Titel in Folge vor Triumph Ufa.

„Wie soll man denn so einen Wert von 0,01 Punkten einem Tanzsport-Fan klar machen. Hat da mal einer ein Bein für den Bruchteil einer Sekunden falsch rausgehalten. Oder wie kommt sowas zustande“, schimpfte BTSC-Cheftrainer Rüdiger Knaack über das neue Wertungssystem, das mehr Verständlichkeit bringen sollte und in jeder Revision mehr davon verliert. „Früher“, sagte Knaack ergänzend, „musste jeder Wertungsrichter Farbe bekennen, war gezwungen, eine Reihenfolge zu bestimmen, obwohl er auf dem Papier vielleicht die gleichen Werte für zwei Teams notiert hatte.“

0,01 Punkte Differenz, klare Kante sieht in der Tat anders aus. Besonders bitter: Im Vorjahr in der VW-Halle verpasste der BTSC den WM-Titel schon sehr knapp mit 0,14 Punkten Rückstand auf Tyumen.

Der Braunschweiger TSC tanzt vor der Lichtshow des Veranstalters in der ersten Runde des Turniers.
Der Braunschweiger TSC tanzt vor der Lichtshow des Veranstalters in der ersten Runde des Turniers. © Frank Rieseberg

Und noch etwas wurmte den Braunschweiger Cheftrainer, nämlich die Leistung seiner eigenen Mannschaft. „Wir haben zu viele Fehler gemacht. In jeder Runde haben wir irgend eine schwierige Passage sehr gut gemeistert, aber auch schlechte Sachen zugelassen“, erläuterte Knaack. „Es fehlt die Konstanz.“ Zu blöd nur, dass ausgerechnet die Achterreihe, die in Vor- und Zwischenrunde sicher gestanden hatte, im Finale ziemlich komplett vermurkst wurde. „Allein das waren deutlich mehr als 0,01 Punkte, die wir da haben liegenlassen“, rechnete der Erfolgstrainer vor, der gerade erst mit fast der gleichen Truppe zum 19. Mal deutscher Meister geworden war.

Thema des WM-Tages war allerdings etwas ganz anderes, nämlich die neue Choreographie von Vera Tyumen. Die Russen versuchten, im Allgemeinen den Fußballsport tänzerisch darzustellen und im Speziellen die Champions League. Geht nicht? Klar geht das. Mit Bühnenreifer Gestik und Mimik, theatralisch – wie eine Parodie. Wie schön. Aber leider muss man dem alten und neuen Weltmeister attestieren: Thema verfehlt. Denn das Tanz-Theaterstück mit Anpfiff, Abpfiff Toren, Fouls und Tänzerinnen, die Stoff-Fußbälle an die Ärmel genäht bekommen haben, hatte nur ganz wenig mit Standard-Formationstanzen zu tun.

Wenn diese Russen dann allerdings zwischendrin doch einmal das taten, was sie sollten in diesem Sport, machten sie das ausgesprochen und unerreicht gut. Ein bisschen wirkte diese Tanzformation wie die Harlem Globetrotters im Basketball, eine sehenswerte Showtruppe, die mit den Basketball-Regeln nichts zu tun hat. Müssen sie auch nicht, denn sie nehmen ja auch nicht an Meisterschaften teil mit ihrer Show. Vera Tyumen schon und wird damit sogar Weltmeister. Der ein oder andere Gegner solcher Inszenierungen hätte die Sibirer lieber disqualifiziert gesehen. Doch den Mut, einen Titelverteidiger rauszuwerfen, hatte von den Weltverbands-Offiziellen niemand.

So entwickelt sich dieser ganze Sport immer weiter in zwei entgegengesetzte Richtungen. Die Show-Effekte, und das wurde in Pecs mal wieder überdeutlich, nehmen immer mehr überhand. Kein Wunder, denn wer ganz vorne tanzt, ist das Vorbild für das Gros, für die Nachahmer, die selbst nie oder ganz selten Innovation einbringen.

Jene, die eine komplett andere Philosophie als Vera Tyumen haben, die Westeuropäer also, die schwächeln und kommen zurzeit für ganz vorn nicht infrage. So wie Braunschweig. So wie Ludwigsburg, der Rekord-Weltmeister wurde nur Vierter. Oder so wie die besten Niederländer, die dieses Mal völlig überraschend gar nicht erst angetreten waren.

Die Lösung der personellen Probleme der deutschen Topteams mit ihrem zweifellos vorhandenen Talent ist der Schlüssel. Die Tänzerinnen und Tänzer müssen wieder wie früher länger bei der Stange bleiben, bereit sein, sich über mehrere Jahre zu quälen, trotz Stress in Beruf und Studium. Und sie müssen noch besser tanzen als zurzeit. Dann ist ihr Konzept und ihre Philosophie auch wieder siegfähig. Überall, auch bei Titelkämpfen in Osteuropa, wo naturgemäß die Jury mit mehr osteuropäischen Wertungsrichtern besetzt ist als bei Turnieren in Westeuropa.

Wenn Vera Tyumen jedenfalls das machen darf, was sie tun, gewinnen sie bei der augenblicklichen qualitativen Gemengelage überall. Weil sie es können. Und es wäre doch zu schön, mal wieder beurteilen zu können, ob russische Teams auch in der Niederlage Champions sind.