Göttliches Design: Selbst Atheisten möchten beim Anblick der Natur Patagoniens nicht an Zufall glauben.

Alexis Rono traut dem Frieden nicht. Verdächtig still liegt der Lago Grey vor uns. Nicht der leiseste Wind kräuselt seine Oberfläche. In Patagoniens Natur, meint unser Guide, müsse man immer auf eine ungeahnte Gefahr, eine Attacke gefasst sein. Die Sonne lässt vor unseren Kajaks einen schwimmenden Eisblock aufblitzen. "Nicht weiterfahren!", mahnt Rono und paddelt allein an das bläuliche Ungetüm heran. Tastet die träge dahintreibende Masse mit den Augen ab. Sind da irgendwo Rillen oder Risse? Dringt ein Knarzen, Knirschen, Knistern ans Ohr?

Das Eis gibt immer Warnzeichen von sich, ehe sich seine Kräfte entladen. "Links ist es zu gefährlich", ruft er aus seinem Kajak herüber. "Fahrt rechts heran, aber vorsichtig." Ehrfürchtig nähern wir uns den scharfen Kanten, tippen ein paar Mal mit den Fingern daran – ein Eisberg zum Anfassen. Dann aber wird aus unserem Mut ein mulmiges Gefühl, bloß wieder weg, Abstand wahren und Respekt vor diesem Brocken.

Leicht kann ein Stück abplatzen, und dann gnade uns Gott. Wir steuern um eine Biegung in dem bis zu 500 Meter tiefen See. Kaum sind wir heraus aus dem Windschatten des Landes, fallen Böen über uns her, peitschen die Wellen hoch, lassen die Boote auf ihren Kämmen tanzen. Weit vor uns funkelt der Grey-Gletscher, der das fünf Grad kalte Gewässer speist. Er ist 28 Kilometer lang, bis zu sechs Kilometer breit und 30 Meter mächtig.

Hier unten am Ende der Welt, in Chiles wildem Süden, ist der Wind der stärkste Gegner des Menschen. Er verändert alles und verhindert alles, wenn er sich richtig austobt. Wir haben gelernt, uns nicht mit ihm anzulegen. Über uns ragen die Furcht erregenden Gipfel der Torres del Paine empor, Patagoniens Wahrzeichen. Sie sind so drohend gezackt, als seien sie Monumente der Abschreckung. Wie mag es den Bergsteigern ergehen, die jetzt an ihren Wänden und Pfeilern hängen, sich an Grate und Kanten klammern?

Der italienische Salesianerpater Alberto de Agostini, der vor knapp einem Jahrhundert Patagonien erforschte, empfand das Paine-Massiv "wie die fantastische Erscheinung eines außerirdischen Königreiches". So genannte Eispilze krönen den 3050 Meter hohen Hauptgipfel, die Luftfeuchtigkeit friert dort in dem rasenden Luftstrom direkt am Felsen fest.

Tags darauf steigen wir das Ascencio-Tal hoch, das "Tal des Wilderers", wie es die Einheimischen nennen, weil dort einst ein Jäger sein Unwesen trieb, der Pferde erlegte, um danach nur deren Zungen zu essen. Schon vier Stunden kämpfen wir uns einen steilen Moränenhang hinauf. Anfangs haben wir nur in ein hoffnungsloses Wolkengrau geblickt, das alle Berge für den Rest des Tages zu verhüllen schien. Kaum aber kommen wir oben an, reißt der Himmel auf wie ein Kinovorhang. "Typisch Patagonien", sagt Sergio Barrios, unser heutiger Führer. "Hier könnt ihr alle vier Jahreszeiten an einem Tag erleben."

Zu Füßen der drei gewaltigen, bis zu 1000 Meter hohen Steilwände der Paine-Türme breitet sich ein Gletscher aus wie ein schneeweißer Teppich. Schon ein kurzer Blick auf die Wassermassen, die aus ihm heraus in die Tiefe stürzen, zeigt, mit welcher Geschwindigkeit das Eis auch in diesem Teil der Welt schmilzt.

"Schaut euch Agostinis Fotos aus dem Jahr 1945 an", sagt Barrios. "Darauf ist alles, wo wir jetzt stehen, von einer Eiskappe überzogen. Den See da vorn gab es damals nicht, er hat sich erst vor 20 Jahren durch das schmelzende Gletscherwasser gebildet." Wie mag es hier erst in weiteren 20 oder gar 50 Jahren aussehen? Wir steigen wieder ab über das Geröll. Unten pausieren wir für einen Moment, da rast wie aus dem Nichts, einem Tornado ähnlich, eine Windhose auf uns zu. Zwei Brasilianer aus unserer Gruppe werden von ihr zu Boden gestreckt wie Boxer von einer wuchtigen Geraden. Ich lasse mich instinktiv auf die Knie fallen und kauere mich so flach wie möglich zusammen. Eine zweite Bö jagt über uns hinweg, die Halme und Sträucher ringsum zittern waagrecht in der Luft.

Im Nationalpark Torres del Paine ist man selten allein. Doch hier, nur ein paar Dutzend Kilometer weiter südlich davon, umfängt uns all das, wofür Europäer 20 Flug- und etliche Autostunden auf sich nehmen. Da ist Patagonien leer, und wir sind so voller Empfindungen, als trügen wir die Nerven auf der Haut. Matías del Soto führt uns zwischen monströsen Felsbrocken hindurch, die Gletscher haben sie in der jüngsten Eiszeit durch die Landschaft geschoben. Hunderte tote Bäume liegen um uns herum; die Erdschicht ist vielerorts so dünn, dass die Wurzeln sich nicht genug festkrallen konnten, um der Wut der Stürme zu widerstehen.

Dann wieder streifen wir durch Wälder mit lenga, wie diese Art der Südbuche hier heißt, und beobachten fasziniert, wie del Soto mit "Psch-Psch"-Lauten scharenweise Vögel anlockt; sie setzen sich auf die Zweige ringsum und schauen uns mit schräggelegten Köpfen an.

Der Hügel, den wir nun erklommen haben, fällt an seiner Westflanke schroff ab. Strahlend blaue Seen ruhen im Tal, ein Kondor genießt die Lufthoheit, dann aber starren wir in das Dunkel unter Felsüberhängen-Höhlen, die durch Wellenschläge entstanden, als hier ein Urozean wogte.

Wir erkennen dunkelrote Linien, rätselhafte Konturen, Reste von Felsmalereien der ersten Menschen, die vor etwa 10 000 Jahren nach Patagonien kamen. Es waren heilige Plätze, die sie damals als Ritualstätten aussuchten. Die eindrucksvollste von ihnen, die Mylodon-Höhle, ist 200 Meter lang, 80 Meter breit und 30 Meter hoch.

Schweigend verharren wir im hintersten Winkel der cueva del milodon und blicken zur Lichtquelle am Eingang. Unser Hotel "Remota" am Rande der Hafenstadt Puerto Natales sieht sich als eine Art Basislager für Ausflüge in Natur und Geschichte. Sieben Führer stehen das ganze Jahr über bereit, um mit den Gästen loszuziehen. Es spricht viel dafür, von solch einem Stützpunkt aus ein kleines Stück Patagonien besser zu erkunden, statt auf staubigen Schotterstraßen binnen kurzer Zeit möglichst viele Ziele abzuhaken.

Die Sierra Baguales etwa, zu der wir mit Joaquín Zuleta aufbrechen, hätten wir alleine nie gefunden. Sie ist wie eine Schatzkiste der Natur und ein Erdgeschichtsbuch zugleich. Die Sonne hat uns trotz kräftigen Eincremens Stirn und Nacken verbrannt, wir schwitzen bei 25 Grad im Schatten. "Ihr habt ein Riesenglück gehabt", sagt Zuleta, "eine ganze Woche ohne Regen, das gab es dieses Jahr noch nie." Fünf Stunden wollte er mit uns marschieren, achteinhalb sind es geworden. Wir sind am Ende der Kräfte, aber wenn einer von uns seufzt, dann verzückt wegen der Farben, in denen die Berge im Dämmerlicht schimmern.