Berlin. Nach Affären überprüft das Bundesamt für Flüchtlinge (Bamf) Zehntausende Altfälle. Wie konnte es so weit kommen?

Deutschland im Mai 2018: Auf der Landkarte sind Orte wie Zirndorf, Rendsburg, Diez und Bad Berleburg fett markiert. Es sind Namen von zehn Außenstellen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, kurz Bamf. Dort, wo es „Auffälligkeiten“ bei den Asylquoten gibt. So formuliert es die Bamf-Spitze. Andere fürchten schon neue Orte, in denen Schlampereien, Fehler und möglicherweise sogar Betrug Teil des deutschen Asylsystems geworden sind. Ein Ort fällt besonders auf: Bremen. Dort ermitteln bereits Staatsanwälte unter anderem gegen die frühere Leiterin der Außenstelle. Neu im Fokus: die Außenstelle im rheinland-pfälzischen Bingen. Auch dort berichten Mitarbeiter in internen E-Mails von stark abweichenden Schutzquoten.

Das Bamf ist im Dauerstresstest. 18 000 Entscheidungen über Asyl will das Bundesamt allein in Bremen prüfen, knapp 5000 waren es schon in den vergangenen Monaten. 8500 kommen in den anderen verdächtigen Außenstellen dazu. Das Bamf entscheidet darüber, ob der Antrag eines Menschen auf Schutz in Deutschland berechtigt ist. Knapp 200 000 Mal 2017. Doch mehr und mehr mutiert das Amt zu einer Kontrollinstanz. Es prüft nicht mehr neue Asylbewerber, sondern sich selbst. Die eigenen Pannen.

Fälle ohne Anhörung und Prüfung der Identität

Funktioniert das Krisenmanagement? Interne Dokumente, die unserer Zeitung vorliegen, lassen daran zweifeln. Schon 2017 prüfte das Amt 2000 Asylverfahren, die durch Mitarbeiter entschieden wurden, die auch Franco A. Asyl bescheinigt hatten – einem deutschen Rechtsradikalen, der sich nur als Syrer ausgab.

Zehntausende Asylfälle landen nun vorzeitig zur Wiedervorlage beim Bamf: positive Anerkennungen, die in der Hochphase der Fluchtkrise getroffen wurden – in Hunderttausend Fällen ohne Anhörung oder Identitätsprüfung. Nur per schriflichen Fragebogen. „Papier-Syrer“ nennen sie manche im Amt.

Auch Mohammad F. ist ein „Papier-Syrer“. Der Mann war schon Anfang 2015 nach Deutschland gekommen und erhielt den Flüchtlingsstatus. Eine persönliche Anhörung gab es damals nicht. F. reichte seinen syrischen Pass beim Bundesamt ein, doch auf Echtheit überprüfte das Bamf ihn nie. Die Lage in Syrien hat sich seit 2015 nicht wesentlich geändert, Mohammad F. hat weiter Recht auf Schutz in Deutschland. Das geht aus der Wiedervorlage seines Asylentscheids hervor, der unserer Zeitung vorliegt. Dem Amt liegen demnach keine Hinweise vor, dass er getäuscht hat oder straffällig wurde. Nur in „besonders begründeten Ausnahmefällen“ würden Personaldokumente nachträglich zur Analyse angefordert, schreibt der Sachbearbeiter. Nur „ein bestimmter, bereits vom Bundesinnenministerium ausgewählter Personenkreis“ werde noch einmal zu Gesprächen geladen. Mohammed F. wurde dafür nicht ausgewählt. Laut Akte allerdings zwei seiner Neffen. Sie hatten zeitgleich Asyl in beantragt.

Mitte Mai ging ein Schreiben der Abteilung 2, Referat 232, an die Vizepräsidentin des Bamf, Uta Dauke. Das Referat ist für die Qualitätssicherung verantwortlich. Widerrufsverfahren würden wie etwa im Fall von Mohammad F. derzeit nicht umfassend geprüft. Auf dem sechsseitigen internen Schreiben nennt die Referatsleiterin weitere Beispiele: ein Flüchtling, in dessen Akte weder Reisepass noch irgendein anderes Ausweisdokument beiliegt, und von dem weder bei der ersten noch bei der zweiten Asylprüfung Fingerabdrücke genommen wurden. Ein verfolgter PKK-Anhänger aus der Türkei, der schon 2001 nach Deutschland gekommen war, wurde 2013 zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt wegen Körperverletzung. Sein Asylstatus hätte laut Referat 232 widerrufen werden müssen. Der Sachbearbeiter entschied dagegen. Der Mann habe eine „Drogen-Entziehung“ gemacht und sei nicht mehr straffällig geworden. Das Referat aber mahnt, dass Widerrufsverfahren „kein Instrumentarium der schnellen Erledigung von Fallzahlen sein“ dürften.

Ein Sprecher des Bamf antwortet auf Nachfrage, dass Antragsteller für Asyl zu einer „persönlichen Anhörung“ geladen würden, sofern ihr Asylentscheid 2015 und 2016 im „schriftlichen Verfahren“ getroffen wurde. Fälle wie Mohammad F. stehen dieser Aussage entgegen.

Zudem schreibt das Bamf, dass Urkunden im Widerrufsverfahren auf Echtheit untersucht würden, sofern „bisher nicht geprüfte Dokumente vorgelegt werden“. Eine Aussage, die der Sachbearbeiter im Fall des Syrers anders darstellt. Wer mit einzelnen Mitarbeitern in der Nürnberger Zentrale spricht, die wütend sind auf die Amtsführung, hört auch solche Sätze: „Alles läuft weiter wie bisher. Und das ist politisch gewollt.“ In mehr als 600 000 Fällen entschieden 2017 Bamf-Mitarbeiter über das Recht auf Schutz eines Menschen. Es waren vor allem Syrer, Iraker und Afghanen, die neue Anträge stellten. In 40 Prozent aller Fälle lehnte das Bamf einen Schutzstatus ab. 2016 stellten sogar 750 000 Menschen Asylanträge. Zum Vergleich: 2013 waren es 127 000.

Asyl ist ein Grundrecht. Es geht um Menschen und ihre Schicksale. Das klingt banal, macht aber deutlich, wie kompliziert Entscheidungen sein können. Ist ein Afghane von den Taliban bedroht? Klingt seine Fluchtgeschichte plausibel? Wie ist seine Identität zu prüfen, wenn er seinen Pass dem Schlepper geben musste? Wer die Krise im Bamf verstehen will, so erzählen es Mitarbeiter im Bundesamt, aber auch im Innenministerium, muss zurückgehen in die Zeit, in der täglich Tausende Menschen an der Grenze um Asyl baten. Erst im August 2015 stellte der damalige Innenminister Thomas de Maizière (CDU) 2000 neue Stellen für das Bamf in Aussicht – neun Monate, nachdem das Amt schon zur Notfallmaßnahme der Fragebogen-Asylentscheide gegriffen hatte. Und Wochen, bevor Bamf-Chef Manfred Schmidt zurücktrat. Aus allen Richtungen hatte es Kritik gehagelt: Das Amt entscheide zu langsam.

„Beschleunigungsfetisch“ – Kritik an Ex-Behördenchef Weise

Nach Schmidt begann die Amtszeit von Frank-Jürgen Weise, der nun neben der Bundesarbeitsagentur auch das Bamf leiten sollte, ein profilierter Behörden-Manager. Kanzlerin Merkel holte Weise auf diesen Posten. Es begann das, was Kritiker heute „Beschleunigungsfetisch“ nennen. Weise holte Unternehmensberater ins Amt, genauso wie pensionierte Finanzbeamte, Angestellte vom Zoll und Soldaten. In Crash-Kursen wurden sie zu Entscheidern über das Grundrecht Asyl. „Unter der Amtsleitung von Herrn Weise wurde das Bamf auf marktwirtschaftliche Benchmarks getrimmt. Über das Grundrecht auf Asyl wurde wie am Fließband entschieden“, sagt Bamf-Personalratschef Rudolf Scheinost heute.

Die Zahl der Mitarbeiter wuchs in Kürze um Tausende. Fast
700 000 Mal entschied das Bamf 2016 über Asylanträge, so oft wie in den sechs Jahren zuvor nicht. „Wir mussten abwägen, was schlimmer ist: weiter monate- oder gar jahrelange Wartezeiten bei den Asylverfahren mit gravierenden Folgen für die Betroffenen und auch für die Gesellschaft? Oder eine massive Beschleunigung mit dem Risiko, dass unerfahrene Mitarbeiter und Dolmetscher auch Fehler machen können?“, sagt Weise heute. Und er sagt, dass noch immer Hunderttausende Verfahren unbearbeitet geblieben wären, hätte er damals nicht so gehandelt.