Jerusalem. Nach Trumps Jerusalem-Entscheidung gibt es Unruhen im Westjordanland und im Gazastreifen. Ein Mensch wird getötet.

An der Stelle, wo der Leidensweg Jesu – die Via Dolorosa – eine Biegung macht, bahnt sich plötzlich ein schwarzer Pulk einen Weg durch die Massen. Bis hierher sind die Palästinenser vom Tempelberg, den sie Haram al-Sharif (Deutsch: edles Heiligtum) nennen, geströmt, doch jetzt ist Schluss. Die israelischen Polizisten in ihren dunklen Uniformen schlagen, treten und drängeln sie zurück, in voller Kampfmontur und mit Tränengaswerfern im Anschlag. Auslagentische gehen zu Bruch, Ladenbesitzer reißen ihre Türen zu. „Tizdayen mipo“ – verschwindet, schreien die Beamten, immer wieder prügeln sie auf einzelne Protestierende ein. Von der Terrasse des österreichischen Hospizes filmen Touristen die Szenerie. Die arabischen Frauen auf dem Platz rufen „Allahu akbar“, Gott ist größer, als sie in die Gassen neben den Mauern der Pilgerherberge abgedrängt werden.

„Hiye, hiye, hiye, al-Quds al-falastiniyye“, skandiert die Masse. Jerusalem ist palästinensisch – das ist die Nachricht, die im Sinne der Araber und Muslime von der heiligen Stadt ausgehen soll an diesem Freitag, dem – von den Palästinenserführern erklärten – zweiten von mindestens drei „Tagen des Zorns“. 24 Stunden, nachdem Hamas-Chef Ismail
Haniyya in Gaza zu einer neuen Intifada aufgerufen hat. Intifada, das heißt so viel wie Abschütteln. Für die Israelis geht es darum, dass an diesem Freitag nicht wie vor 30 und 17 Jahren ein Volksaufstand ausbricht.

An drei Seiten sind Trupps der Grenzpolizei postiert

Der Anlass zum Aufbegehren kam dieses Mal nicht aus Gaza oder
Jerusalem, sondern aus Washington, wo US-Präsident Donald Trump am Mittwoch Jerusalem als israelische Hauptstadt anerkannt hat. Das orientiert sich zwar an gewissen Fakten – im Westen der Stadt sind seit Jahrzehnten unter anderem das israelische Parlament und die meisten Ministerien untergebracht. Doch nach bisherigem internationalem Konsens sollte der Status von Jerusalem erst im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung endgültig geklärt werden. Trumps Entscheidung ist für viele Beobachter völkerrechtswidrig und das Ende aller Hoffnungen auf Palästina mit einer Hauptstadt Ost-Jerusalem, die auf Arabisch al-Quds, die Heilige, heißt.

An diesem Freitag haben sich Reporter aus aller Herren Länder am Damaskus-Tor, am Ausgang der Altstadt, postiert. Unter den hellen Kalksteinzinnen von der Mauer Sultan Suleimans I. aus dem 16. Jahrhundert, wo wochentags fliegende Händler Taschentücher und frische Feigen feilbieten, stehen Dutzende Kamerateams und erklären ihren Zuschauern, was hier geschieht – oder passieren könnte. Auf Podesten an drei Seiten sind Trupps der Grenzschutzpolizei Magav postiert. Die durchgehend sehr jungen Soldaten tragen M16-Maschinenpistolen vor der Brust und die Panzerung um Rumpf und Hals fest geschlossen. Bei Anschlägen in den vergangenen zwei Jahren sind an dieser Stelle über ein Dutzend Menschen gestorben. Die ständige Lebensgefahr mag zumindest teilweise das rigorose Auftreten der Beamten erklären. Auf die Frage, warum sie zugeschlagen haben, sagt ein Polizist schlicht: „Weil wir es nun mal so machen.“ Mit brutaler Härte.

Am Damaskus-Tor kommt Wael Abu al-Hara mit seiner Tochter Dina die Stufen herunter, vorbei an den Reportern, auf dem Weg in die Altstadt. Die Familie wohnt im Ost-Jerusalemer Stadtteil Abu Tur, über die Entscheidung des US-Präsidenten denkt er: „Immerhin weiß die Welt jetzt, dass auch Amerika keinen Frieden will, dass sie hier nicht vermitteln.“ Der Vater von vier Töchtern hat den Oslo-Friedensprozess und die zweite Intifada erlebt, er findet: „Es hat alles nichts gebracht.“ Doch seine Älteste widerspricht: „So geht es nicht weiter.“ Sie will nicht jeden Tag den Checkpoint der Israelis passieren, um zu ihren Vorlesungen in die Universität von Bethlehem zu kommen, sie will eine Familie gründen in Ost-Jerusalem, wo Araber wenn überhaupt mit viel Geduld und nach dem Aufbringen hoher Gerichtskosten ein Haus bauen können. Sie will nicht vom Willen eines anderen Volks abhängig sein und nicht in einer Stadt wohnen, die ihr nicht gehört, sagt sie.

70 Prozent der Palästinenser sind unter 30 Jahre alt, sie haben die Frustrationen der niedergeschlagenen Intifada nicht erlebt. Viele von ihnen denken, der Kampf könnte sich lohnen. Deshalb sind es besonders junge Männer, die aufbegehren, während die Älteren mit frustrierten Mienen vor ihren Geschäften stehen.

„Wegen Trump, wegen der Juden“, schreit ein halbstarker Junge, der in den Altstadtgassen vor den Polizisten flüchtet, auf die Frage, warum es nun wieder eskaliert, warum die Polizisten sie weggedrängt und verprügelt haben. Wie seine Freunde trägt er einen raspelkurzen Boxerhaarschnitt, Turnschuhe und enge Jeans, ein martialischer Look.

Die größte Sorge der Palästinenser gilt al-Aqsa, dem Tempelberg, der drittheiligsten Stätte
des Islams, von wo der Prophet
Mohammed zum Himmel aufgestiegen sein soll. Im Sommer haben sie hier mehrheitlich friedlich für den Abbau von neu installierten Metalldetektoren und Kameras protestiert. Das Einknicken der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu war ein kleiner Triumph. Die Israelis wissen, dass jede Veränderung des Status quo Auslöser für einen neuen Aufstand sein kann, deswegen dürfen die wenigen nicht-muslimischen Besucher hier auch nicht beten, deswegen hat die israelische Polizei am Freitagmorgen entschieden, den Zugang für die gläubigen Muslime nicht zu beschränken. Ein arabisch-sprechender drusischer Polizist lässt sich nur die Ausweise zeigen. Wer die erste Sure des Korans nicht aufsagen kann, ist kein Muslim und kommt nicht herauf.

Raketenbeschuss

aus dem Gazastreifen

Bis zum Nachmittag wurden bei Unruhen im Gazastreifen und dem Westjordanland mindestens 760 Menschen verletzt und ein Palästinenser getötet. Die israelische Polizei habe scharfe Munition eingesetzt heißt es. Rund 260 Menschen hätten Schusswunden erlitten, teilt das palästinensische Gesundheitsministerium mit. Auch in Ägypten, im Libanon, in Jordanien, in der Türkei und im Iran gab es Demonstrationen.

Am Abend schlägt dann eine aus dem Gazastreifen abgefeuerte Rakete in der Stadt Sderot im
Süden Israels ein. Medienberichten zufolge gab es dabei keine Verletzten. Zwei weitere Raketen waren zuvor bereits von der israelischen Armee abgefangen worden. Israel reagiert darauf mit einem Angriff auf einen Stützpunkt der radikal-islamischen Hamas im Gazastreifen. Nach Angaben aus palästinensischen Sicherheitskreisen wurden dabei 25 Menschen verletzt.