Berlin. Nur wenige Deutsche nutzen die neuen Regeln für berufstätige Angehörige.

Morgens ins Büro, nachmittags zu den alten Eltern: Für Hunderttausende Deutsche gehört der Spagat zwischen Pflege und Beruf zum Alltag. SPD und Union wollten ihnen dabei helfen: Seit einem Jahr haben pflegende Angehörige das Recht auf eine berufliche Auszeit von bis zu zwei Jahren, ohne dabei Angst um ihren Job haben zu müssen. Mit Kassengeldern und staatlichen Darlehen soll der Lohnausfall abgefedert werden. Doch das Angebot wird nur zögerlich angenommen. Pflegeexperten schlagen jetzt ein neues Modell vor: Eine „Elternzeit für Ältere“. Wie schon junge Mütter und Väter sollten in Zukunft auch pflegende Angehörige, die im Job kürzer treten oder pausieren wollen, einen staatlichen Lohnersatz bekommen.

Dass die bisherigen Finanzierungsmodelle am Bedarf der meisten Angehörigen vorbei gehen, ist offensichtlich: „Die Zahlen sind enttäuschend“, sagt Christel Bienstein, Pflege-Expertin an der Uni Witten/Herdecke und Vorsitzende des Beirats für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf beim Familienministerium. „Wir müssen davon ausgehen, dass das Gesetz nachgebessert werden muss“, sagte sie dieser Zeitung. Grünen-Politikerin Elisabeth Scharfenberg sieht es noch schärfer: „Das Gesetz ist ein Flop“, bilanziert die pflegepolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag. „Es geht an der Lebenswirklichkeit der meisten vorbei.“

Dabei klingt es so praktisch: Tritt ein unerwarteter Pflegefall in der Familie ein, können Angehörige seit Januar eine zehntägige Auszeit vom Job nehmen – ohne auf Lohn verzichten zu müssen. Ähnlich wie beim Kinderkrankengeld bekommen Berufstätige aus der Pflegekasse einen Lohnersatz in Höhe von bis zu 90 Prozent des Nettogehalts. Die Regierung hatte dafür ursprünglich 100 Millionen Euro pro Jahr eingeplant. In den ersten neun Monaten zahlten die Pflegekassen jedoch gerade einmal rund zwei Millionen Euro aus. Wie viele Nutzer hinter dieser Zahl stehen – dazu gibt es nur Schätzungen. Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) geht von 6000 Angehörigen aus – eine sehr großzügige Kalkulation. Zuletzt hatte ihr Haus bei der Halbjahresbilanz 1,2 Millionen Kassengelder auf 2000 Nutzer umgerechnet.

„Die Regelungen für die zehntägige Pflegeauszeit sind viel zu aufwendig“, sagt Scharfenberg. „Die meisten Angehörigen lassen sich lieber ein paar Tage krankschreiben, als bei den Kassen umständlich eine Pflegeauszeit zu beantragen.“ Auch in Biensteins Augen scheitert die Inanspruchnahme oft an Alltagshürden: Viele Angehörige wüssten gar nicht, welche Ansprüche sie hätten: „Es darf nicht sein, dass sich Angehörige bei der Pflegekasse melden und keinen Hinweis darauf bekommen, welche Entlastungsmodelle es gibt.“

Auch die neue „Familienpflegezeit“ geht nach Ansicht vieler Experten bislang im Kern an den Bedürfnissen der Angehörigen vorbei: Wer einen Angehörigen über längere Zeit pflegen will, ohne den Beruf gänzlich aufzugeben, kann bis zu zwei Jahre lang seine Arbeitszeit reduzieren oder sechs Monate lang ganz aussteigen. Um die Lohneinbußen abzufedern, bietet der Staat seit Januar zinslose Darlehen an, die maximal die Hälfte des fehlenden Nettogehalts abdecken und später in Raten abbezahlt werden müssen. Bislang sind gerade einmal 313 Darlehen beantragt worden.

Schwesig sieht darin kein Problem. Die Zahl der beantragten Darlehen habe wenig Aussagekraft, die Zahl der Angehörigen, die die Pflegezeit ohne Darlehen in Anspruch nehmen, liege weitaus höher. Für die SPD-Politikerin ist das Gesetz ein Erfolg: „Die 10-tägige kurzfristige Auszeit mit der Lohnersatzleistung ist eine wichtige Unterstützung für viele Menschen“, sagte Schwesig dieser Zeitung. Insgesamt seien die verschiedenen Auszeit-Modelle „der richtige Weg, um die Familien weiter zu unterstützen“.

Pflege-Expertin Bienstein wundert sich dagegen nicht, dass nur so wenige das Darlehen nutzen: „Viele können es sich nicht leisten, eine berufliche Auszeit zu nehmen, auf Lohn zu verzichten, sich zu verschulden und später auch noch das Darlehen zurückzuzahlen.“ Auch für Scharfenberg liegen die Gründe auf der Hand: „Sämtliche Lasten bleiben an den Angehörigen hängen.“ Hinzu kommt: Der Rechtsanspruch auf sechsmonatige Pflegezeit gilt nur in Betrieben ab 15 Mitarbeitern, die zweijährige Teilzeit erst ab 25 Mitarbeitern. Nach Regierungsangaben sind daher mehr als sieben Millionen Arbeitnehmer ohne Anspruch.

Experten rechnen damit, dass immer mehr Deutsche in den kommenden Jahren den Spagat zwischen Beruf und Pflege hinbekommen müssen. Was würde ihnen wirklich helfen? In der Pflege-Szene wächst die Forderung nach einem Lohnersatz-Modell: „Sicherlich könnten berufstätige Angehörige mit einer ‚Elternzeit für Ältere‘ und einem Lohnersatz aus Steuermitteln gezielter unterstützt werden“, sagt Bienstein. Auch der paritätische Gesamtverband wirbt für eine Unterstützung aus Steuermitteln. Die Grünen wären dabei: „Eine Lösung mit Lohnersatz ist in jedem Fall wichtig – wir sollten Kinder und Alte nicht gegeneinander ausspielen“, so Scharfenberg.

In Deutschland leben nach Angaben des Familienministeriums 2,63 Mio. Pflegebedürftige, davon werden 1,25 Millionen allein durch Angehörige betreut. Die Regierung geht davon aus, dass jedes Jahr rund 360.000 berufstätige Deutsche neu in die Situation kommen, einen Angehörigen pflegen zu müssen. Die Erwerbsquoten von pflegenden Angehörigen haben in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen.