Tel Aviv. Israel will nach Rafah vordringen. Viele Vertriebene wissen nicht, wohin sie noch gehen sollen. Beobachter befürchten eine Katastrophe.

Im strömenden Regen machten sich Zehntausende Menschen auf den Weg: teils zu Fuß, teils mit Eselskarren, teils auf Motorrädern. Wer Glück hatte, konnte sich einen Wagen organisieren. Alle hatten ein Ziel: ihr gesamtes Hab und Gut erneut in eine Gegend zu bringen, die von Israels Armee als „humanitäre Zone“ bezeichnet wurde. Das hatte man den Menschen aber schon vor Monaten versprochen, als sie mit ihren Familien nach Rafah geflüchtet waren, und von Sicherheit konnte dort zuletzt keine Rede sein. Erst in der Nacht auf Montag, nur wenige Stunden, bevor die Armee Evakuierungsflugblätter auf Rafahs Osten regnen ließ, brachten Luftschläge zehn Häuser in Rafah zum Einsturz. Laut palästinensischen Angaben kamen dabei 22 Menschen zu Tode, darunter ein Baby.

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Nun also die erneute Evakuierung. Israels Armeesprecher Nadav Schoschani betont, es handle sich um eine „Operation begrenzten Ausmaßes, keine großräumige Evakuierung von Rafah“. Man beschränke sich auf östliche Teile der Stadt. Wie lange den Menschen dort Zeit bleibt, um ihre Zelte abzureißen und in einem rund sieben Kilometer entfernten Gebiet neu aufzustellen, sagt die Armee nicht. Aus offensichtlichen Gründen: Man will keine Deadline nennen, um die Hamas im Unklaren darüber zu lassen, wann die seit Langem angekündigte Offensive in Rafah beginnt.

Israels Armee: Bewohner sollen Ost-Rafah verlassen

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    In Pressebriefings will die Armee nicht einmal bestätigen, dass eine solche Offensive kurz bevorstehe. Das muss sie auch gar nicht, Israels Verteidigungsminister Joav Gallant hatte das längst erledigt. In einem Telefonat mit seinem US-amerikanischen Amtskollegen Lloyd Austin in der Nacht auf Montag beteuerte Gallant, es bleibe den israelischen Streitkräften keine andere Wahl, als die Operation in Rafah zu beginnen.

    Rund 1,4 Millionen Binnenvertriebene sind in Rafah untergebracht

    Am Sonntag hatten TerrorgruppenRaketen auf einen israelischen Posten beim Grenzübergang Kerem Schalom abgefeuert, dabei wurden drei junge israelische Soldaten sofort getötet, ein Vierter erlag am Montag seinen schweren Verletzungen. Zehn Soldaten müssen immer noch im Krankenhaus Soroka behandelt werden, zwei von ihnen befinden sich laut dem Sprecher des Krankenhauses in kritischem Zustand. Israels Armee erklärte, die Raketen seien aus Rafah abgefeuert worden.

    Nach einem israelischen Luftangriff auf den Osten der Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen steigt Rauch auf.
    Nach einem israelischen Luftangriff auf den Osten der Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen steigt Rauch auf. © DPA Images | Abed Rahim Khatib

    Die Evakuierung – und die damit verbundene Drohung eines kurz bevorstehenden Angriffs in Rafah – wird als Reaktion auf den Schlag in Kerem Schalom dargestellt. An Erklärungsbedarf mangelt es Israel nicht: Seit Monaten warnen engste Verbündete, allen voran die USA, aber auch Deutschland, vor einer Offensive, die auch Israels Beziehungen zu den unmittelbaren Nachbarn Ägypten und Jordanien schwer belastet. In den USA und in Europa befürchtet man eine massive Verschlechterung der ohnehin schon angespannten Lage.

    Rund 1,4 Millionen Binnenvertriebene sind in desolaten Zuständen in Rafah untergebracht, sie werden dort mehr schlecht als recht von Hilfsorganisationen versorgt. Eine groß angelegte Offensive in Rafah würde die Versorgung dieser Not leidenden Menschen in Gefahr bringen, argumentieren die USA. Zudem ist umstritten, wie tauglich die Evakuierungspläne Israels sind: Laut den Flugblättern, die die Armee im Osten Rafahs abgeworfen hat, sind die Stadt Chan Junis und das Küstengebiet Al-Mawasi für die Evakuierung vorgesehen. Die humanitäre Zone in Al-Mawasi sei „ausgeweitet“ worden, heißt es. Es gebe dort auch medizinische Versorgung durch Feldkrankenhäuser. Unicef-Sprecher James Elder widersprach diesen Aussagen im BBC-Interview: Al-Mawasi sei „ein Strandgebiet, quasi ohne Sanitäranlagen, ohne medizinische Versorgung“.

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    Ob und wann es eine Bodenoffensive geben wird, ist weiter ungewiss

    Augenzeugen aus Gaza berichten, dass Al-Mawasi bereits jetzt „mehr als überfüllt“ sei, es gebe nicht ausreichend Platz für die zusätzlichen Evakuierten. Überprüfen lässt sich all das nicht. Laut Unicef befinden sich derzeit rund 600.000 Kinder in Rafah. Schon jetzt sei die überwiegende Zahl von ihnen verletzt, krank oder unterernährt.

    Unklar ist, wie viele Menschen von der Evakuierung betroffen sind. Israels Armee erklärte, die Evakuierung betreffe rund 100.000 Menschen. Die palästinensische Menschenrechtsorganisation Mezan erklärte, dass sich in den von Israel als Räumungszone markierten Gebieten derzeit „mehrere Hunderttausend“ Menschen aufhielten. „Viele von ihnen wurden bereits einige Male vertrieben“, sagt eine Sprecherin. Die Familien hätten den Glauben verloren, dass es irgendeinen Ort in Gaza gebe, an dem sie sicher seien. Das könnte viele von ihnen davon abhalten, Rafah zu verlassen, glaubt auch Mustafa Elmasri, Psychiater in Gaza. „Patienten rufen mich an und bitten mich um Rat, aber ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll.“

    Ob und wann es eine Bodenoffensive geben wird, ist weiter ungewiss. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell warnt vor den Folgen einer solchen Invasion. „Israels Evakuierungsaufforderung für die Zivilbevölkerung in Rafah deutet auf das Schlimmste hin: mehr Krieg und Hungersnot“, schrieb Borrell auf X.

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    Die Gespräche in Kairo rund um eine mögliche temporäre Waffenruhe und die Freilassung der Geiseln aus der Gewalt der Hamas sind nun erneut zum Stillstand gekommen. Israel gibt der Hamas die Schuld – die Terrorgruppe habe unerfüllbare Forderungen aufgestellt, erklärte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Sprecher der Hamas wiederum behaupten, dass Israel von Beginn an keinen Kompromiss wollte.