Tel Aviv. Die Justizreform in Israel steht auf der Kippe, der Oberste Gerichtshof hat ihr Kernstück gestoppt. Netanjahu hat kaum noch Optionen.

Fast ein Jahr, nachdem Israels Justizminister Jariv Levin das umfangreiche Paket zur Entmachtung der Justiz präsentiert hat, liegt das Projekt in Scherben. Der Oberste Gerichtshof hat nun entschieden: Jener erste Teil der Justizreform, der bereits in Gesetzesform gegossen wurde, ist rechtswidrig und wird daher aufgehoben. Damit sind wohl auch die übrigen Teile des geplanten Justizcoups zum Scheitern verurteilt.

Mehr als ein halbes Jahr lang hatte das Paket der ultra-rechten Regierung unter Benjamin Netanjahu die Nachrichten dominiert und Hunderttausende Israelis auf die Straßen getrieben. Obwohl laut allen Umfragen die Mehrheit der Bevölkerung die Reform ablehnte, brachte die Koalition den ersten Teil mit den Stimmen der eigenen Abgeordneten kurz vor der Sommerpause durchs Parlament. Ab sofort sollten die höchsten Richter Entscheidungen der Regierung und der Ministerien selbst dann nicht mehr aufheben können, wenn sie „grob unangemessen“ sind.

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Israel: Richter erklären zentralen Teil der Justizreform für nichtig

Nun hat der Oberste Gerichtshof entschieden, dass das zu weit geht. Von fünfzehn Richtern stimmten acht für die Aufhebung der Grundgesetzänderung. Drei weitere Richter erklärten die Reform zwar für demokratieschädlich, hielten eine Aufhebung aber in diesem Fall für unangemessen. Vielmehr sollte der Gerichtshof die Reform möglichst eng auslegen, forderten sie.

Historisch bedeutend ist die Entscheidung aber weniger wegen der Aufhebung des Gesetzes, sondern wegen des zweiten Teils des Richterspruches: Zwölf der fünfzehn Höchstrichter erklärten darin, dass der Gerichtshof in ein Grundgesetz eingreifen darf – und zwar dann, wenn es dem demokratisch-jüdischen Charakter des Staates Israel schweren Schaden zufüge. Nur drei Mitglieder des Richtersenats schlossen sich also der Regierungsmeinung an, dass ein solcher Eingriff unzulässig sei.

Justizreform in Israel: Richter treffen weitreichende Entscheidung

Es ist ein Meilenstein in Israels Justizgeschichte. Der Spruch gibt eine klare Linie für spätere Entscheidungen des Gerichts vor: Ab jetzt ist es für die obersten Richter nicht mehr tabu, die Regierung für demokratieschädliche Politik zu rügen – selbst dann, wenn die Koalition diese Politik in den Stein des Grundgesetzes meißelt. Anders als in Deutschland können Regierungen in Israel Grundgesetze nach Belieben ändern. Sie benötigen dafür nur die Stimmen ihrer eigenen Koalitionsabgeordneten im Parlament. Die Opposition hat keine Möglichkeit, es zu verhindern.

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Am Tag nach der Entscheidung waren die Vertreter der Regierungsparteien erstaunlich leise. Während die rechtsnationale Koalition im Vorjahr stets die vermeintliche Übermacht der Justiz angeprangert hatte und sogar von einem „Staat im Staat“ fantasiert hatte, hielten sich die Attacken auf das Gericht nun in Grenzen.

Netanjahu hatte die Minister und Abgeordneten der Koalition zwar angewiesen, sich in ihren Reaktionen auf den Richterspruch darauf zu fokussieren, den Gerichtshof in ein möglichst schlechtes Licht zu rücken. Das wurde durch einen Leak des öffentlichen Senders Kan bekannt. „Die Richter spalten das Volk in Zeiten des Krieges“: So lautete der Spin, den Netanjahus Verbündete verbreiten sollten. Einige von ihnen folgten dieser Parole.

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Der rechtsextreme israelische Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir.
Der rechtsextreme israelische Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir. © Ilia Yefimovich/dpa | Unbekannt

Israel: Netanjahu muss sich jetzt zurücknehmen – aus diesem Grund

Im Vergleich zu den Attacken auf die Justiz, wie man sie in den ersten Monaten des vergangenen Jahres laufend hören konnte, nahmen sich die Reaktionen aber verhalten aus – wenn man von den üblichen Verdächtigen in Itamar Ben-Gvirs rechtsextremer Partei Otzma Jehudit einmal absieht.

Vieles deutet darauf hin, dass sich die Koalition nun fügen und zumindest während des Gaza-Kriegs nicht auf ihrem Justizcoup beharren wird. Schon jetzt ist die Regierung laut allen Umfragen enorm unpopulär. Jede Anstrengung, die jetzt nicht dem Krieg in Gaza gilt, würden selbst Netanjahus treueste Fans nicht gutheißen. Dazu kommt, dass der Regierung seit Kriegsbeginn mit den früheren Oppositionellen Benny Gantz und Gadi Eisenkot zwei erbitterte Gegner der Justizreform angehören. Jede Art von Konfrontationskurs mit dem Obersten Gericht würde diese Regierung sprengen – und das will Netanjahu tunlichst vermeiden.