Berlin. Pakistan schiebt Hunderttausende von Afghaninnen und Afghanen ab. Den Menschen droht Armut und Unterdrückung. Aktivisten sind besorgt.

Tausende Menschen und vollgepackte Lastwagen nähern sich der Grenze nach Afghanistan. Seit Anfang Oktober sollen Hunderttausende nicht angemeldete Afghaninnen und Afghanen Pakistan verlassen. Menschenrechtsorganisationen zählen zwischen 1,4 bis 1,7 Millionen Betroffene.

Der Grund für die massenhaften Abschiebungen soll die steigende Terrorgefahr sein, wie der geschäftsführende Ministerpräsident Pakistans, Anwaar ul Haq Kakar, mitteilte. Seit der Machtübernahme der Taliban hätte es in Pakistan einen Anstieg von Terroranschlägen um 60 Prozent und von Selbstmordanschlägen um 500 Prozent gegeben.

Aktivisten warnen vor einer humanitären Katastrophe

Die pakistanische Regierung setzte den Menschen eine Frist bis November. Jetzt haben sie einen Aufschub bis Ende des Jahres erhalten. Doch besteht weiterhin die Gefahr, verhaftet und abgeschoben zu werden.

In den letzten Wochen haben bereits Hunderttausende das Land verlassen. Aus Angst vor der pakistanischen Polizei fliehen sie zurück in das von Taliban regierte Land, wo ein Leben ohne Perspektive und in Armut auf sie wartet. Aktivisten sind besorgt und warnen vor einer humanitären Katastrophe.

Abschiebungen bereiten Angst und Sorgen

Von den Abschiebungen sind selbst Menschen betroffen, die seit Jahrzehnten in Pakistan leben. Einige von ihnen kamen nach der sowjetischen Invasion Ende der 1970er Jahre nach Pakistan. Nun sollen sie in ein Land zurückkehren, das seit langem nicht mehr ihre Heimat ist.

Andere sind in Pakistan geboren und aufgewachsen. „Sie sind dort zur Schule gegangen, haben studiert und ihr Leben dort aufgebaut“, erklärt der afghanische Journalist Wadud Salangi, der im Herbst 2021 aus Afghanistan nach Deutschland gekommen ist. „Für sie ist es sehr schwer, nach Afghanistan zu gehen.“ Viele versteckten sich aus Angst vor einer Abschiebung.

Die Flüchtenden dürfen keine persönlichen Gegenstände mitnehmen. Pakistanische Behörden nehmen ihnen Berichten zufolge Schmuck und Bargeld an den Grenzen ab. „Sie dürfen nicht mehr als 178 Dollar mitnehmen“, berichtet der Aktivist und Politikwissenschaftler Nesam Halim. Außerdem soll Pakistan Häuser nahe der Grenze zerstören, in denen afghanischer Familien gelebt haben.

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Afghanischer Journalist: „Die Menschen fahren ihrem Tod entgegen“

Pakistan war schon immer ein Zufluchtsort für politische Flüchtende aus Afghanistan. Als vor über zwei Jahren die Taliban wieder an die Macht kamen, gingen zehntausende ehemalige Mitarbeitende der Vorgängerregierung sowie Anwälte, Journalisten und Aktivisten ins Ausland, um dem Tod zu entkommen.

Der Journalist Wadud Salangi erzählt: Auch viele seiner Kollegen gingen nach Pakistan. „Sie wollten eigentlich in Länder wie Deutschland, die USA oder Großbritannien fliehen, sitzen aber seither in Pakistan fest, um ihr Visum zu bekommen.“ Die Menschen kommen nur über die Nachbarländer an ein Visum, da es in Afghanistan keine deutsche Botschaft mehr gibt.

Für die bedrohten Menschen sei es extrem dramatisch, jetzt wieder nach Afghanistan gehen zu müssen. „Sie fahren der Verhaftung oder gar dem Tod entgegen“, betont Salangi. Die Taliban sind bekannt für ihre extrem menschenfeindlichen Ansichten und Verfahren. Zahlreiche Menschen wurden seit der Machtübernahme brutal getötet.

Auch der Aktivist Omar Haidari betont die Dramatik der Situation. „Es wird direkt nach ihnen gesucht werden. Zudem werden Journalisten definitiv die Pressefreiheit verlieren, da die Presse innerhalb Afghanistans zensiert wird und vollständig unter Einfluss der Taliban steht.“

Dramatische Situation an den Grenzen

An den Grenzen sammeln sich die Menschen. Viele von ihnen haben ihr gesamtes Hab und Gut auf einen Lastwagen gepackt. Doch Afghanistan ist nicht auf diese Welle an Flüchtenden vorbereitet. Es fehlt an Nahrung, Wasser und Unterkünften, wie Hilfsorganisationen berichten.

Afghanische Flüchtende sitzen auf einem Hügel vor dem Büro der Internationalen Organisation für Migration (IOM), während sie auf ihre Registrierung warten, nachdem sie aus Pakistan an der Afghanistan-Pakistan-Grenze in der Provinz Nangarhar angekommen sind.
Afghanische Flüchtende sitzen auf einem Hügel vor dem Büro der Internationalen Organisation für Migration (IOM), während sie auf ihre Registrierung warten, nachdem sie aus Pakistan an der Afghanistan-Pakistan-Grenze in der Provinz Nangarhar angekommen sind. © AFP | WAKIL KOHSAR

Der bevorstehende Winter vergrößert die Sorgen. Bereits jetzt fallen die Temperaturen auf bis zu minus zehn Grad. „Er setzt alle sehr unter Zeitdruck. Viele Menschen haben kein Dach über dem Kopf. Für Kinder unter fünf Jahren wird es besonders gefährlich. Viele sind unterernährt und haben Durchfälle. Bei Minusgraden von über 20 Grad ist ein Überleben im Zelt sehr schwer.“, betont Christina Ihle, Geschäftsführerin des Afghanischen Frauenvereins, der aktuell mit 24 Hilfsprojekten im Land engagiert ist. Für Frauen, Schwangere und Kleinkinder sei es besonders gefährlich. „Haben sie kein Dach über dem Kopf, steigt das Risiko für sexualisierte Gewalt“, betont Ihle.

Die Perspektiven sind düster. 28 Millionen Menschen in Afghanistan gelten als hilfsbedürftig. 97 Prozent leben nach Angaben der UN in Armut. „Afghanistan ist nicht dazu in der Lage, Menschen jetzt oder auch in zwei Monaten aufzunehmen“, sagt Nesam Halim.

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Frauen und Mädchen verlieren Perspektive

Für Frauen und Mädchen ist die Situation in Afghanistan ohnehin schon gefährlich. Ihnen wird der Zugang zu Bildung, Sicherheit und Lebensunterhalt verwehrt. „Sie können nicht mehr als freier Mensch leben“, sagt Wadud Salangi. Sie haben nach der Rückkehr keine Aussichten auf ein sicheres Einkommen und einen Beruf.

„Die pakistanische Regierung schiebt wissentlich und absichtlich Frauen und Kinder an einen Ort ab, an dem sie keine grundlegenden Menschenrechten haben“, erklärt Omar Haidari. Unter den Taliban werden Mädchen in Afghanistan extrem in ihren Menschenrechten eingeschränkt. Sie dürfen keinen Sport ausüben, nicht studieren oder zur Schule gehen. Auch für queere Menschen und Minderheiten ist es gefährlich.

Eine afghanische Flüchtlingsfrau bereitet gemeinsam mit ihren Kindern ihre Habseligkeiten vor, um sie auf ein Fahrzeug zu laden, bevor sie zu ihrer Provinz aufbrechen.
Eine afghanische Flüchtlingsfrau bereitet gemeinsam mit ihren Kindern ihre Habseligkeiten vor, um sie auf ein Fahrzeug zu laden, bevor sie zu ihrer Provinz aufbrechen. © AFP | WAKIL KOHSAR

Aktivist: Wir dürfen Afghanistan nicht vergessen

Haidari ist besorgt über die Massenabschiebungen nach Afghanistan. Er ist vor sieben Jahren nach Deutschland gekommen und hat seine Kindheit und Jugend in Afghanistan verbracht. „Ich weiß, wie es sich anfühlt, plötzlich alles zu verlieren, wofür man hart gearbeitet hat, um ein Leben zu beginnen, ein Netzwerk aufzubauen und einen Ort zu schaffen, der einem ein Zuhause und Stabilität gibt.“

In ein neues Land zu kommen, erforderte viel Anstrengung, betont der Aktivist. „Oft müssen die Menschen alles aufgeben, wofür sie gearbeitet haben, was sie aufgebaut haben, von dem sie geträumt haben. Das geht mit einer enormen Menge an Trauma und Druck einher.“

Es sei wichtig, dass die internationale Gemeinschaft Afghanistan nicht vergesse. „Mehr Solidarität, Unterstützung und Aufmerksamkeit von der internationalen Gemeinschaft könnten in dieser schwierigen Zeit Leben retten“, sagt der Aktivist. „Es müssen die verantwortlichen pakistanischen Institutionen zur Rechenschaft gezogen und Druck ausgeübt werden, damit die grundlegenden Menschenrechte von Asylsuchenden und Flüchtenden eingehalten werden.“

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Deutsche Regierung soll Versprechen einhalten

Die Aktivisten fordern die Bundesregierung zum Handeln auf. Diese hatte nach der Machtübernahme der Taliban ein Aufnahmeprogramm für Afghaninnen und Afghanen ins Leben gerufen. Darüber sollten vor allem Menschen nach Deutschland kommen, die durch ihre Arbeit oder Engagement in Justiz, Politik, Medien, Sport, Kultur oder Wissenschaft gefährdet sind. Bisher sind nur dreizehn Menschen über das Programm nach Deutschland eingereist. 600 Menschen wurden aufgenommen.

„Die deutsche Bundesregierung sollte nun alles daransetzen, gefährdete afghanische Ortskräfte mit Einreisezusage schnellstmöglich aus Pakistan zu holen. Besonders, nachdem Deutschland so viele Versprechen für Afghanen und Afghaninnen nicht eingehalten hat“, fordert Christina Ihle.

Das Auswärtige Amt plant, im Rahmen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR 2023 etwa 20 Millionen Euro für humanitäre Hilfe in Afghanistan und den Nachbarländern bereitzustellen. Damit sollen afghanische Binnenvertriebene, Flüchtende und Rückkehrende unterstützt werden.

Seit der Machtübernahme der Taliban sind auch offizielle Gelder und Spenden zurückgegangen. Doch Ihle versichert, „nach wie vor gibt es unabhängige Organisationen, die vor Ort anpacken und den Menschen helfen. Spenden kommen an, ohne in falsche Hände zu geraten.“