Bottrop. Markus Elstner war 12, als ihn Kaplan Peter H. missbrauchte. Nun will er Gerechtigkeit – und erzählt sein Leben im Schatten der Kirche.

Der Teufel blickt auf ein schreiendes Gesicht, darüber ein Augenpaar mit leeren Pupillen: Was für eine krasse Geschichte erzählt dieser tätowierte Arm. „Es ist meine Geschichte“, sagt Markus Elstner. Die Geschichte von Missbrauch, Ohnmacht, einem zerstörten Leben. Verantwortlich, sagt er, sei Peter H. Der Pfarrer, der sich eingeschlichen hat in eine von einer Tragödie zerrütteten Familie aus Bottrop. Der dem Kind und der Mutter Hilfe versprach, Halt und Unterstützung. Und es dann mit Alkohol gefügig machte und missbrauchte für seine eigene Befriedigung.

Es ist eine Geschichte des Vertuschens – zum Schutz des Täters. Mit dabei: andere Priester, Pröpste, Bischöfe. Auch Joseph Kardinal Ratzinger, der verstorbene ehemalige Papst Benedikt. Vor allem ist es eine Geschichte aus der Perspektive des Opfers.

Markus Elstner war zehn, als sein Vater seiner Mutter in den Kopf schoss. „Die Kugel ging an der Schläfe rein und zwischen den Augen wieder raus.“ Die Mutter schleppte sich, schwer verletzt, wie sie war, ins Treppenhaus, wo sie einer Nachbarin in die Arme fiel. Markus Elstner und seine zwei Jahre jüngere Schwester wurden direkt von der Schule auf die Polizeiwache gebracht – und von dort aus in ein Heim. „Es dauerte 18 Monate, bis die Mutter gesund war“, erzählt Elstner. Unter Auflagen kamen die Kinder zurück zu ihr. Eine davon war, dass sich der junge Kaplan um die Familie kümmert. Der junge Kaplan – das war Peter H.

Erst Messwein und Fanta mit Rum – „dann kam die Hand auf das Knie“

Die Mutter, eine strenggläubige Katholikin, nahm dankbar die Hilfe an. „Er war eine charismatische Bombe“, sagt Elstner. Ein cooler Typ. „Er konnte jeden um den Finger wickeln – mich auch.“ Schließlich kam der Kaplan regelmäßig nach Hause. „Der Junge braucht eine Vaterfigur“, habe er erklärt. Niemand habe widersprochen, „ich auch nicht“. H., der Kaplan, sei zunächst sein Vorbild gewesen. „Ich habe zu ihm hochgeguckt. So wollte ich auch werden.“ Dass er unter diesen Umständen Messdiener wird, „war keine Frage, sondern selbstverständlich“.

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Dann fingen die Übernachtungen an. „Da ging es schnell zur Sache.“ Erst gab es Messwein, dann kam die Hand aufs Knie. H. streichelte ihn an den Genitalien, gab dem Zwölfjährigen mehr Alkohol. Immer weiter ging H. Das Kind Markus kam nun regelmäßig, geschickt von der Mutter. „Ich habe versucht, ihr von dem Missbrauch zu erzählen, doch sie hat mir nicht geglaubt.“

Statt Messwein gab H. dem Jungen Rum mit Fanta – und zwang ihn zum Oralsex. Es kam zur Vergewaltigung. „Ich war vollkommen verstört“, erinnert sich Elstner. „Ich war nicht aufgeklärt. Ich dachte, das ist ein Priester, das muss so sein.“ Und dann bekam er auch noch Geld, mal fünf, mal zehn Mark. „Er hat mich bezahlt.“ Der Junge kaufte davon ein Skateboard; es trug den Schriftzug „Alien“. „Genauso habe ich mich gefühlt: wie ein Außerirdischer.“

„Er hat mich zum Alkoholiker gemacht“

Markus trank immer öfter Alkohol, auch in der Kirche. H. habe ihm erlaubt, Messwein zu trinken, sagt Elstner, schweigt, dann fügt er hinzu: Der Kaplan Peter H. „hat mich zum Alkoholiker gemacht“. Jetzt ist Elstner 57, „und seit 45 Monaten trocken“, sagt er beim Spaziergang durch die Fußgängerzone von Bottrop. Schlafen könne er seitdem aber nur noch mit Schlafmitteln, denn H. „kommt mich jeden Tag besuchen“. Er sei jetzt tablettenabhängig.

Elstner ist auf dem Weg zur Propsteikirche St. Cyriakus. Es ist eine neugotische Hallenkirche, deren Backstein am Kirchplatz die Innenstadt dominiert. „Direkt gegenüber haben wir gewohnt“, erklärt Elstner. Mit dem Blick auf die Kirche. Hinein will er nicht. Aber den Gedenkstein zeigen, der seit einem Jahr vor dem Haupteingang der Kirche die Blicke der Menschen auf sich zieht, die durch die Fußgängerzone schlendern. Ein Gedenkstein für Betroffene sexuellen Missbrauchs, „die durch Selbstmord oder andere Umstände diese Verbrechen nicht überlebten“, steht drauf. Darunter ein Bild des Künstlers Frank Gebauer: ein Bischof mit Mitra, der ein Kruzifix in die Höhe hält. Sein Gesicht ist blutrot verhüllt, die Augen stechen schwarz heraus.

Die Augen, die nichts sehen, darunter die Fratze des Teufels: Markus Elstner hat seine Geschichte auf den Oberarm tätowiert.
Die Augen, die nichts sehen, darunter die Fratze des Teufels: Markus Elstner hat seine Geschichte auf den Oberarm tätowiert. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

„Der Stein ist für die, über die niemand spricht“, sagt Elstner. Er hat den Gedenkstein mit der Selbsthilfegruppe „Wegweiser“ initiiert. Nun posiert er dort für ein Foto. Zieht seine Jacke aus, zeigt den tätowierten Arm, der aus dem schwarzen T-Shirt ragt. Ob er an Gott glaube? „Ich glaube lieber an den Teufel“, antwortet er und zeigt auf die Fratze auf dem Oberarm. „Die Tattoos sind mein Weg, alles zu verarbeiten. Der stumme Schrei ist mein Leben. Ich habe mein Leben lang geschrien, aber niemand hat mich gehört.“

Mit 15 Jugendarrest, mit 17 zum ersten Mal Knast

Sein Schrei, das war der Alkohol in der Kindheit, dann die Drogen und Aggressionen. Elstner baute sich aus Fahrradschlössern Schlagringe. Kam in die Psychiatrie. Trank nachmittags den Schnaps aus dem Wohnzimmerschrank der Mutter leer. Es gab Streit. „Die Mutter mahnte, wenn ich so weitermache, lande ich im Knast.“ Ihre Prophezeiung wurde Realität: Markus Elstner brach die Schule ab und fing an zu klauen, er brauchte ja Geld für den Alkohol, für die Drogen. Für den Rausch, mit dem er die Bilder aus der Wohnung von H. aus dem Kopf bekommen kann. Er kam in Jugendarrest mit 15, in den Knast mit 17. Flog als Maler raus. Setzte auf Sylt einen Job in den Sand. Immer wieder baute er Beziehungen zu Frauen auf, doch sie hielten nicht lange.

Jahrzehnte in einem einzigen Rausch. Bis er im Jahr 2010 im Fernsehen Pfarrer Peter H. wieder sieht. Elstner ist zu Besuch bei seiner Mutter, der Fernseher läuft. Plötzlich erscheint das Gesicht von Peter H. auf dem Bildschirm. Es geht um sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche und die Suspendierung von Peter H. durch den Essener Bischof Franz-Josef Overbeck. Elstner erfährt nun, dass Peter H. seit 1979 immer wieder innerhalb des Bistums Essen und München und Freising versetzt wurde.

Dass er immer wieder Jungen missbrauchte – und dennoch in der Seelsorge und damit der Arbeit mit Kindern eingesetzt wurde. Sogar noch nach einer 18-monatigen Bewährungsstrafe, zu der das Amtsgericht Ebersberg den geständigen H. verurteilt hatte.

„Plötzlich war alles wieder da“, sagt Elstner. Das Trauma kehrte als massiver Flashback zurück. Elstner beschließt zu kämpfen, um endlich leben zu können – und gründet die Selbsthilfegruppe Wegweiser. Er reist nach Bayern, trifft dort Andreas Perr, der von Peter H. in den 1990er Jahren missbraucht wurde. Perr klagt vor dem Landgericht Traunstein gegen das Erzbistum München und Freising. Er will 300.000 Euro Schadenersatz von der Kirche. Begründung: Der Missbrauch habe ihn aus der Bahn geworfen, habe sein Leben ruiniert. Wie Markus Elstner rutschte er in die Alkohol- und Drogensucht. Perr wirft dem Erzbistum vor, H. trotz seiner Verurteilung und der vielen massiven Vorwürfe gegen ihn in verschiedenen Gemeinden eingesetzt zu haben. Perrs Klage richtet sich auch gegen den verstorbenen Kardinal Josef Ratzinger, den späteren Papst Benedikt XVI. Von den Erben verlangt Perr 50.000 Euro. Ratzinger hatte 1980 an einer Sitzung teilgenommen, in der beschlossen wurde, dass H. nach München wechseln soll.

Als Ratzinger noch Erzbischof war, soll er Kenntnis vom Vorleben des umstrittenen Priesters H. gehabt haben.
Als Ratzinger noch Erzbischof war, soll er Kenntnis vom Vorleben des umstrittenen Priesters H. gehabt haben. © Maurizio Brambatti/ANSA/epa/dpa | Unbekannt

Obwohl die zuständige Richterin bereits erklärte, sie sehe grundsätzlich einen Haftungsanspruch Perrs gegenüber dem Bistum München, zieht sich der Prozess. Denn das Opfer muss nach gescheiterten Güteverhandlungen nun mit Gutachten beweisen, dass seine Alkohol- und Drogensucht mit dem sexuellen Missbrauch zusammenhängen. Also muss Perr sich detailliert erinnern – auch auf die Gefahr einer schweren Retraumatisierung hin.

Markus Elstner ist nun Aktivist: Dass er betroffen ist, schreit er heraus

„Ich hoffe, Andreas Perr hält durch, auch finanziell“, sagt Elstner. Er hat bereits eine Spendensammelaktion für die Prozesskosten ins Leben gerufen. Wenn Perr erfolgreich ist, dann will auch Elstner für eine massive Entschädigung kämpfen. „Ich will endlich Anerkennung“, sagt er über seinen Antrieb. Es gehe um seine Arbeitsunfähigkeit, seine Sucht, seine Depressionen – und die Ursache dafür. Vor allem der Oralsex habe ihn so traumatisiert, dass er noch nicht mal zum Zahnarzt gegen konnte und sich kranke Zähne selbst zog. Zum ersten Mal im Leben habe er eine glückliche Beziehung. „Ich möchte meine Verlobte heiraten, aber dann wird mir das Bürgergeld gestrichen, weil sie ein Einkommen hat.“

Markus Elstner bei einer Mahnwache vor der Kardinal-Hengsbach-Figur in der Essener Innenstadt. Der Figur hat er die Augen verbunden.
Markus Elstner bei einer Mahnwache vor der Kardinal-Hengsbach-Figur in der Essener Innenstadt. Der Figur hat er die Augen verbunden. © FUNKE Foto Services | Uwe Ernst

Als vor einigen Wochen bekannt wurde, dass der frühere Essener Kardinal Franz Hengsbach in den 1960er Jahren Mädchen missbraucht hatte, fuhr er nach Essen und organisierte mit einem weiteren Opfer von H. eine Mahnwache vor dem Dom. Direkt neben der Statue von Hengsbach, die mittlerweile abgebaut wurde. „Es muss alles rauskommen“, sagt er und richtet wieder den Blick auf den Gedenkstein vor der Bottroper Propsteikirche.

Als er erfährt, dass Peter H. auch noch von Kardinal Hengsbach im Jahr 1973 zum Priester geweiht wurde, entfährt ihm nur ein: „Heiliger Sumpf“. Dann zieht er sein Handy aus der Hosentasche, zeigt ein Foto seines neuen Tattoos, das er sich demnächst stechen will. Es ist eine Kirche. Und die steht lichterloh in Flammen.