Brüssel/Berlin. Die Lieferengpässe bei Medikamenten haben sich verschärft. Was die EU-Kommission jetzt plant, was Gesundheitsminister Lauterbach rät.

Mal gibt es keinen Fiebersaft für Kinder, mal fehlen Medikamente für Herzpatienten, dann sind Krebsmedikamente nicht verfügbar oder Mittel gegen psychische Erkrankungen: Die Arzneimittel-Knappheit in Deutschland und Europa hat sich offenbar verschärft. Im Winter drohen wieder Engpässe, räumt Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ein. Jetzt will die EU reagieren: Mitgliedsländer sollen über einen freiwilligen Solidaritätsmechanismus lebenswichtige Medikamente teilen – wenn sie in einem Land der EU knapp werden, könnten andere Länder aushelfen.

Vor allem bei besonders wichtigen Arzneien soll ein Frühwarnsystem rechtzeitig auf drohende Engpässe hinweisen und Gegenmaßnahmen auslösen. Das sieht ein neuer Plan zur Medikamenten-Verfügbarkeit vor, den die EU-Kommission am Dienstag beschließen will.

Doch werden die Maßnahmen ausreichen? Der Mediziner und EU-Abgeordnete Peter Liese (CDU) schlägt bereits Alarm: „In den letzten Monaten hat sich das Problem der Knappheit von Arzneimitteln dramatisch zugespitzt.“ Die Anzahl der Erstmeldungen von Lieferengpässen notwendiger Arzneimittel in Deutschland steige massiv: 2018 habe es 265 solcher Meldungen gegeben, 2022 schon 680. Und in diesem Jahr seien bis Mitte Juni bereits 497 Erstmeldungen eingegangen. Damit sei ein „unerträglich hohes Niveau“ erreicht, sagt Liese, er spricht von einem „Skandal für ein reiches Land“.

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    Der Arzt betont, in den meisten Fällen könne mit viel Aufwand Abhilfe geschaffen werden, echte dramatische medizinische Probleme seien selten. Und doch: Er habe selbst vor einem Jahr als Arzt im Krankenhaus erlebt, wie Kinder auf überfüllten Stationen liegen mussten, nur weil ihr benötigtes Antibiotikum nicht als Saft zur Verfügung stand. Die Situation sei „unzumutbar“, sagt Liese. Und eine „unerträgliche Belastung“ für das medizinische Personal in Praxen und Kliniken und für die Mitarbeiter in Apotheken, die mit hohem Zeitaufwand Ersatzlösungen suchen müssten. Der Apothekerverband Nordrhein hatte vor wenigen Wochen erklärt, täglich seien rund 1,5 Millionen Menschen in Deutschland von Engpässen bei der Versorgung mit Medikamenten betroffen, aktuell seien unter anderem Antibiotika knapp.

    Fiebersaft sollten Eltern von kleinen Kindern immer im Haus haben, rät Gesundheitsminister Karl Lauterbach.
    Fiebersaft sollten Eltern von kleinen Kindern immer im Haus haben, rät Gesundheitsminister Karl Lauterbach. © iStock | istock

    Zu den Plänen der EU gehört, bis Ende des Jahres eine offizielle Liste von besonders wichtigen Medikamenten vorzulegen. Diese Liste solle helfe, „die Verfügbarkeit von unentbehrlichen Arzneimitteln zu überwachen und Schwachstellen in der Lieferkette zu beheben“, sagt EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides. Den geplanten Solidaritätsmechanismus zwischen Staaten könnte es nach den Überlegungen der Kommission sogar mit Ländern des globalen Südens geben – bei Medikamenten mit saisonaler Nachfrage etwa gegen Atemwegserkrankungen, weil der Winter in den Ländern auf der südlichen Halbkugel in unsere Sommerzeit fällt.

    Warum Medikamente vor allem in Deutschland knapp sind

    Medikamente gemeinsam beschaffen, Vorräte aufbauen: Diese Maßnahmen sollen mittelfristig wirken. Die Kommission will zudem Regierungen und Hersteller in einer Allianz für unentbehrliche Arzneimittel zusammenbringen und die Produktion ankurbeln – mit besseren Rahmenbedingungen für den Ausbau der Kapazitäten in Europa. Von den Pharmaunternehmen erwartet die Kommission, dass sie Pläne zur Vorbeugung von Engpässen vorlegen und drohende Lieferprobleme frühzeitig melden. Das ist auch Teil eines Gesetzentwurfs, den die Kommission schon im Frühjahr vorgelegt hatte.

    Die Hersteller in Deutschland und den anderen EU-Staaten hängen stark von importierten Vorprodukten und Wirkstoffen vor allem aus China und Indien ab. Probleme entstehen durch die steigende Nachfrage, Unterbrechungen der Lieferketten und jetzt auch noch durch die Inflation, die den Druck auf die Produzenten von preiswerten Generika verstärkt. Die Arzneimittelknappheit sei in Deutschland zum Teil dramatischer als in anderen europäischen Ländern, sagt der EU-Abgeordnete Peter Liese (CDU). Grund: Die „Billigmentalität“ sei hierzulande besonders ausgeprägt und der Druck für Anbieter von patentfreien Arzneimitteln groß.

    EU-Abgeordneter Peter Liese: „Experten haben lange gewarnt“

    Liese fordert unter anderem die Schaffung einer europäischen Reserve von strategisch wichtigen Medikamenten und die systematische gemeinsame Beschaffung, um die Kosten für bestimmte Medikamente zu senken. Er klagt, das EU-Parlament mache seit Jahren Vorschläge, die EU-Kommission habe aber nur einen kleineren Teil aufgegriffen. „Wir müssen bei den Arzneimitteln, für die kein Patentschutz gilt und die also grundsätzlich sehr preiswert sind, von der totalen Billigmentalität weg“, sagt der Europaabgeordnete.

    Bei manchen Medikamenten lägen die Tagestherapiekosten bei 0,01 Euro. „Dies hat dazu geführt, dass diese Medikamente zum ganz überwiegenden Teil in China und Indien unter zum Teil zweifelhaften Bedingungen hergestellt werden. Experten haben schon lange davor gewarnt, dass dies zu Engpässen und Knappheit von Arzneimitteln führt“, sagt Liese. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte im Juni ein nationales Lieferengpassgesetz auf den Weg gebracht. Es sieht unter anderem eine Lockerung der Preisregeln für Kinderarzneien vor, größere Vorräte werden zur Pflicht.

    Der „Bild am Sonntag“ sagte Lauterbach, der Medikamentenmangel werde in diesem Winter nicht so schlimm wie im letzten Jahr, Engpässe seien aber nicht zu vermeiden: „Wir sind mit Herstellern von Antibiotika und Fiebersäften im engen Austausch. Wir beobachten genau: Was könnte knapp werden?“ Der Minister riet auch zu Vorsorgemaßnahmen: „Wer kleine Kinder hat, sollte eine kleine Flasche Fiebersaft zu Hause haben, um zum Beispiel am Wochenende reagieren zu können.“ Dagegen sei es nicht ratsam, Antibiotika auf Vorrat zu lagern, denn erst beim Arzt erfahre ein Patient, welches Mittel er brauche.