Jerusalem. Kein Strom, kaum Wasser: In Gaza sind Hunderttausende Menschen auf der Flucht. Vor allem Kranke sind bedroht. Ein Report über die Lage.

Was, wenn es kein Wasser mehr gibt? „Darüber denke ich viel nach. Ich habe keine Antwort“, sagt Najla Shawa. Mit ihren zwei kleinen Töchtern und ihrem Mann hat sie ihr Zuhause im Norden von Gaza verlassen und lebt nun dicht gedrängt im Süden des Gazastreifens. Shawa ist 42 Jahre alt. Sie spricht makelloses Englisch und trägt auch auf der Straße kein Kopftuch – eine Seltenheit in Gaza. Als Pressesprecherin der Hilfsorganisation Oxfam ist es ihr Job, der Welt zu berichten, wie die humanitäre Lage in Gaza ist.

Jetzt ist Shawa selbst ein humanitärer Krisenfall. „Ein paar Kleidungsstücke für meine Töchter, Handyladegeräte – viel mehr konnten wir nicht mitnehmen“, erzählt sie über ihren abrupten Aufbruch um vier Uhr in der Früh am Freitag. Nun hat sie in einer Hütte nahe der Stadt Az-Zawayida Unterschlupf gefunden, gemeinsam mit rund 60 weiteren Personen, zwanzig davon sind Kinder. „Es ist total überfüllt und wir werden immer mehr“, sagt Shawa. „Wir schlafen auf Stühlen, in Ecken gedrängt.“ Die jüngere Tochter ist sechs Jahre alt, die Ältere wird an diesem Tag zehn.

Die Tochter wünscht sich, heim zu dürfen – Shawa hat nur etwas Schokolade

Najla Shawa mit ihrer Familie – ein Bild aus entspannteren Tagen. Nun sind sie auf der Flucht. Die ältere Tochter feierte in der Flüchtlingsunterkunft ihren zehnten Geburtstag.
Najla Shawa mit ihrer Familie – ein Bild aus entspannteren Tagen. Nun sind sie auf der Flucht. Die ältere Tochter feierte in der Flüchtlingsunterkunft ihren zehnten Geburtstag. © Privat | Privat

Was sie sich zum Geburtstag wünscht? Irgendwann wieder nach Hause zurückkehren zu dürfen. Was sie bekommt: „Ein wenig Schokolade, die ich für sie in einem Geschäft in der Nähe gefunden habe“, sagt Shawa. Wer mit dem Mädchen feiert: so viele Gäste wie noch nie. „Wir werden alle anderen, die hier auf der Flucht sind, zu uns einladen“, sagt Shawa. In den überfüllten Hütten herrsche eine ausgeprägte Solidarität: „Wir teilen alles miteinander.“

Doch alles wird eben auch knapp – wie das Trinkwasser. Shawa, ihre Kinder und die anderen Flüchtlinge geben sich Mühe, so wenig Wasser wie möglich zu verbrauchen. „Ich habe gerade zum ersten Mal seit vier Tagen geduscht“, sagt Shawa. Extrem herausfordernd sei es aber vor allem, den ständigen Beschuss auszuhalten. „Tagsüber versuche ich, für die Kinder stark zu sein. Aber nachts breche ich heulend zusammen.“

Seit Freitagmorgen ist der Transfer der Bevölkerung im Gazastreifen im Gange – eine gewaltige Aufgabe. 1,1 Millionen Menschen sollen vom Norden in den Süden umgesiedelt werden. Unklar ist, wie viele von ihnen noch nicht evakuiert sind. „Ich weiß von einigen, dass sie noch in Gaza-Stadt sind, weil sie sich nicht von ihrem Zuhause trennen können“, sagt Shawa.

Was passiert mit den Menschen, die nicht aus Gaza-Stadt wegwollen?

Israels Armee hat einen heftigen Beschuss angekündigt. Ein riesiges Tunnelsystem der Hamas soll sich unter Gaza-Stadt befinden, es wird einen massiven Armeeeinsatz brauchen, um diese Netzwerke zu zerstören. Was aber passiert mit jenen Bewohnern, die nach Ablauf der Frist noch im Norden sind? Israels Armeesprecher will auf die Frage nicht direkt antworten. „Das ist ja der Grund, warum wir alle ermutigt haben, in den Süden zu gehen.“

Die israelische Armee teilt Bilder von Hamas-Stellungen, die Flüchtende daran hindern sollen, den Norden zu verlassen. Zudem sollen Hamas-Terroristen Autoschlüssel konfisziert haben, damit Menschen nicht in den Süden aufbrechen können.

Unter Palästinensern ruft die Massenevakuierung teils traumatische Erinnerungen hervor. „Mein 94-jähriger Vater hat mir, kurz bevor er sich auf den Weg in den Süden gemacht hat, gesagt: Das ist die zweite Nakba“, sagt Ayed Yaghi, Chef der Hilfeorganisation Medical Relief Society in Gaza. Als Nakba bezeichnen Palästinenser die Vertreibungen, die rund um den israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 stattfanden. Die damals Vertriebenen leben heute auch in Flüchtlingslagern im Gazastreifen. Mehrere dieser Flüchtlingslager befinden sich im Norden. Nun sollen die Menschen auch dort weg.

„Es ist wie 1948, nur mit dem Unterschied, dass es jetzt die elektronischen Mittel dafür gibt, dass die ganze Welt zuschauen kann“, meint auch Najla Shawa. Wo sie und ihre Familie leben werden, wenn der Krieg irgendwann vorbei ist, sei eine Frage, die sie sich noch nicht stelle. „Im Augenblick hoffe ich nur, dass wir das überleben.“

Die wichtigsten Krankenhäuser sind im Norden des Gaza-Streifens

Zwar hat Israel angekündigt, den Beschuss nun auf den Norden zu konzentrieren. Doch auch im Süden gibt es nach wie vor Luftangriffe, das bestätigt auch die isrealische Armee. Deren Sprecher Richard Hecht versichert, dass Zivilisten vorgewarnt werden. Das ist aber nicht immer machbar, da viele Handynummern nicht oder kaum mehr erreichbar sind.

Shawas größte Sorge ist, dass Menschen aus dem Norden krank werden. „Wir haben keinen Zugang zu einem Krankenhaus“, sagt sie. „Ich bete, dass niemand von uns medizinische Behandlung braucht.“ Am Samstag sei bereits kurz Panik aufgekommen. „Wir haben hier eine alte Frau mit Herzproblemen.“ Deren Atemnot habe sich aber als Panikattacke infolge eines Luftangriffs herausgestellt.

Zerstörte Gebäude nach israelischen Luftangriffen auf Gaza-Stadt.
Zerstörte Gebäude nach israelischen Luftangriffen auf Gaza-Stadt. © dpa | Mohammed Talatene

Tatsächlich befinden sich die wichtigsten Krankenhäuser im Gazastreifen im Norden, also in der Evakuierungszone. „Wir haben viele Intensivpatienten, Frühgeburten im Inkubator – wir können nicht umquartieren“, heißt es im Al Quds-Spital in Gaza-Stadt. Ähnliches hört man auch aus anderen Krankenhäusern. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die von Israel verfügte Evakuierung daher als „Todesurteil“ für die Patienten bezeichnet.

Im größten Spital, Al-Shifra, sei es schon in den vergangenen Tagen schwierig gewesen, die Patienten zu behandeln, weil wichtige Medikamente nicht mehr verfügbar seien, sagt Ayed Yaghi von der Hilfeorganisation Medical Relief Society. Seit vier Tagen gebe es im Gazastreifen keinen Strom, Krankenhäuser seien auf Generatoren angewiesen – doch wegen des Einfuhrstopps für Treibstoff sei es eine Frage der Zeit, bis sie nicht mehr betrieben werden könnten. So warnt auch das Internationale Rote Kreuz: Krankenhäuser in Gaza drohten, sich „in Leichenschauhäuser ohne Stromversorgung“ zu verwandeln.

Ein Hilfskonvoi am ägyptischen Grenzübergang wurde gestoppt

Zwar war in der Nacht auf Sonntag ein Hilfskonvoi am ägyptischen Grenzübergang Rafah im Süden des Gazastreifens angekommen. Er wurde dort aber vorerst gestoppt. Wann die Lieferungen ankommen und ob sie auch die Krankenhäuser im Norden erreichen werden, ist unklar.

Indes wartet alles darauf, wann die israelische Bodenoffensive im Gazastreifen beginnt. Das hängt laut informierten Kreisen von drei Faktoren ab: den Wetterbedingungen, der Bereitschaft der Divisionen und der politischen Entscheidungsfindung. Es liegt an der Regierung, grünes Licht für die Offensive zu geben, und bisher ist das nicht geschehen, bestätigt ein Armeesprecher.

Auch die Isrealis in Sderot nahe Gaza sollen die Stadt verlassen

Sonntagmorgen wurden die rund 30.000 Einwohner von Sderot nahe der Gazagrenze aufgefordert, binnen 24 Stunden die Stadt zu verlassen. Viele hatten das schon vorher freiwillig getan, nun sollen auch die Verbliebenen evakuiert werden. Sie werden in Hotels in Eilat, Tel Aviv und am Toten Meer untergebracht – an freien Hotelzimmern mangelt es nicht.

In Israels Süden war es in den vergangenen Nächten zwar ruhig, tagsüber nahmen die Terrorgruppen ihr Feuer jedoch wieder auf. Die nächtliche Ruhe ist laut Militärexperten kein Indiz dafür, dass der Hamas langsam die Luft ausgeht. Auch während des Kriegs im Jahr 2014 gab es diese Ruhephasen, auf die dann aber wieder massiver Beschuss folgte.