Nordhausen. Jörg Prophet könnte am Sonntag der erste AfD-Oberbürgermeister in Deutschland werden. Der Thüringer ist beim Verfassungsschutz bekannt.

Kai Buchmann steht vor einer Situation, die er kennt. An diesem Sonntag geht der parteilose Oberbürgermeister der Kreisstadt Nordhausen in Thüringen in die Stichwahl um den Chefposten im Rathaus. 2017, als Buchmann gegen die örtliche CDU-Kandidatin gewann, war das genauso. Diesmal jedoch geht es um weit mehr: In Nordhausen könnte der erste AfD-Oberbürgermeister der Bundesrepublik gewählt werden. Jörg Prophet, Jahrgang 1962, galt schon im ersten Wahlgang als Favorit.

Die Wahl hat Nordhausen nicht nur bundesweite Aufmerksamkeit beschert – auch international richtet sich der Blick auf die Kreisstadt: schon deshalb, weil hier das schlimmste Kapitel der deutschen Geschichte bis heute greifbar ist. Hier liegt das ehemalige Konzentrationslager Mittelbau-Dora, ein Außenlager des KZ Buchenwald bei Weimar. Hier haben 20.000 Menschen an Nazi-Deutschland ihr Leben verloren. In dieser Stadt könnte nun, 78 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, ein Mann zum Oberbürgermeister gewählt werden, der einer Partei angehört, die vom Landesamt für Verfassungsschutz als erwiesen rechtsextrem eingestuft wird.

Die Wahl hat Nordhausen bundesweite Aufmerksamkeit beschert.
Die Wahl hat Nordhausen bundesweite Aufmerksamkeit beschert.

Lesen Sie auch den Kommentar: In Thüringen haben alle Parteien versagt

Mehrere Verbände von KZ-Überlebenden haben ihre Sorge angesichts der möglichen Wahl eines AfD-Oberbürgermeisters ausgedrückt, das Internationale Komitee Buchenwald, Dora und Kommandos schreibt zum Beispiel: „Wir lassen nicht zu, dass faschistische Politiker in den Kellern des III. Reiches wühlen, die Aufmerksamkeit in der Unwürdigkeit erregen und damit versuchen, die Bemühungen der demokratischen Kräfte zu zerstören.“

Erster AfD-OB ausgerechnet in einer Kreisstadt mit ehemaligem Konzentrationslager?

Nordhausen ist heute eine 40.000-Einwohner-Stadt am Rande des Harzes. Viele Bewohnerinnen und Bewohner sind stolz auf die Historie als einstige freie Reichsstadt, es gibt eine Hochschule, große Industriebetriebe haben sich angesiedelt. Hier wird der weit über die Grenzen hinaus bekannte Doppelkorn hergestellt. Beim altehrwürdigen Fußballklub „Wacker“ verdingte sich sogar mit Maurizio Gaudino einst ein ehemaliger Fußball-Nationalspieler als Sportdirektor – in sportlich besseren Zeiten.

Jetzt aber blicken alle auf diese Wahl. Prophet gegen Buchmann. 7750 Stimmen gegen 4363 Stimmen. 42,1 Prozent gegen 23,7 Prozent. So einfach ließe sich die Ausgangslage zusammenfassen. Dass sie nicht so einfach ist, zeigt die Debatte der vergangenen Tage und Wochen:

Jens-Christian Wagner, Stiftungsdirektor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, sieht in dem Unternehmer Prophet einen Mann, der „keinen Deut“ besser sei als der AfD-Landesvorsitzende Björn Höcke. Aus der Sicht Wagners ist Prophet ein Geschichtsrevisionist, was er mit unterschiedlichen Texten unter Beweis gestellt habe. Jörg Prophet seinerseits versucht, mit lokalen Themen genau davon abzulenken. Er will keinesfalls, dass der völkisch-nationalistische Teil der AfD in den Fokus gerät – und womöglich auch nicht, wofür er selbst in der Vergangenheit eingetreten ist. Er gibt seit Monaten den „Kümmerer“.

Stiftungsdirektor Wagner: „Jörg Prophet ist keinen Deut besser als Björn Höcke“

2016 tritt Prophet in die Partei ein. Drei Jahre später sitzt er sowohl im Stadtrat als auch im Kreistag. Für die AfD leitet er die Geschicke des Nordhäuser Kreisverbandes und betont stets seine regionale Verwurzelung. Dazu passt: Bis zuletzt hat er darauf verzichtet, sich Unterstützung von Parteiprominenz nach Nordhausen zu holen. Erst am vergangenen Wochenende durften dann der rechtsextreme Europa-Spitzenkandidat Maximilian Krah und AfD-Bundesvorsitzender Tino Chrupalla bei einem „Bürgerfest“ vor dem Rathaus auftreten.

Mehr zum Thema: EU-Spitzenkandidat der AfD – Wie radikal ist Maximilian Krah?

Prophet selbst steht schon einige Zeit im Fokus des Landesamtes für Verfassungsschutz. 2021 – den heutigen AfD-Kandidaten kannten damals außerhalb von Nordhausen nur die Wenigsten – schreibt der Nachrichtendienst in seinem Bericht, dass ein Beitrag der Kreistagsfraktion der AfD Nordhausen im Internet die Schuld Nazi-Deutschlands am Zweiten Weltkrieg relativiere. Der Verfassungsschutz sortiert die Äußerungen im Bereich Geschichtsrevisionismus ein. Dass Prophet damals nicht namentlich erwähnt wird, liegt an seiner Unbekanntheit. Allerdings: Nach wie vor lässt sich der mit „Ihr Jörg Prophet“ gezeichnete Eintrag, aus dem der Verfassungsschutz großflächig zitiert, im Netz finden.

Oberbürgermeister Buchmann zeitweise vom Amt suspendiert

Prophets Wahlkampf fällt mitten ins Umfragehoch seiner Partei: Rund ein Jahr vor der nächsten Landtagswahl in Thüringen lag die AfD zuletzt bei einer Insa-Umfrage mit 32 Prozent als landesweit stärkste Kraft vorne. Seit dem Frühsommer gibt es im Thüringer Landkreis Sonneberg den bundesweit ersten AfD-Landrat. Unter diesen Vorzeichen geht Prophet in die Stichwahl. Dass er gute Chancen hat, liegt aber nicht allein am Höhenflug der AfD in Ostdeutschland und der Stimmungslage.

Ein Eklat um den amtierenden Oberbürgermeister hat den Wahlkampf überschattet. SPD-Landrat Matthias Jendricke suspendierte Buchmann wenige Monate vor der Wahl von seinem Amt, weil unter anderem Vorwürfe laut wurden, Buchmann habe Mobbing gegen die städtische Beigeordnete Alexandra Rieger betrieben. Rieger, ebenfalls SPD, wollte selbst Oberbürgermeisterin werden, scheiterte aber.

Soll eine Konkurrentin gemobbt haben: der derzeitige Amtsträger Kai Buchmann.
Soll eine Konkurrentin gemobbt haben: der derzeitige Amtsträger Kai Buchmann. © Martin Schutt/dpa

Und Buchmann? Ein Gericht hob seine Suspendierung kurz vor dem ersten Wahlgang auf, weshalb er die Stichwahl überhaupt erst erreichen konnte. Jetzt wird der parteilose Politik-Quereinsteiger plötzlich zur letzten Hoffnung aller anderen Parteien gegen die AfD.