Baku/Moskau. Aserbaidschan spricht von einem Anti-Terroreinsatz, Armenien von ethnischer Säuberung. So gefährlich ist der Konflikt um Berg-Karabach.

Aserbaidschan hat am Dienstagmorgen einen massiven Angriff auf das mehrheitlich von Armeniern bewohnte Gebiet Berg-Karabach gestartet. Die Hauptstadt Stepanakert und umliegende Dörfer standen unter schwerem Beschuss. Es soll bereits mehrere Tote gegeben haben. Am Mittwoch hat Aserbaidschan eine Feuerpause in der umkämpften Region Berg-Karabach bestätigt. Inzwischen ist der "Krieg" nach Angaben von Aserbaidschan beendet. Die wichtigen Fragen und Antworten:

Was passiert gerade?

Am Dienstagmorgen seien Explosionen und Einschläge von Artilleriegranaten zu hören gewesen, berichten Bewohner aus Stepanakert. Immer gebe es Luftalarm. „Im Moment sind die Hauptstadt Stepanakert, andere Städte und Dörfer intensivem Beschuss ausgesetzt“, erklärten die Behörden am Dienstag. Aserbaidschan führt nach eigenen Angaben lokale „Anti-Terroreinsätze“ durch. Diese Einsätze richteten sich gegen armenische Kräfte, so das Verteidigungsministerium in Baku.

Zuvor waren aserbaidschanischen Angaben zufolge sechs Menschen bei Minenexplosionen getötet worden. Unmittelbar nach Beginn der Kämpfe hatte der Ministerpräsident Armeniens, Nikol Paschinjan, eine Sitzung des armenischen Sicherheitsrates einberufen.

Am Mittwoch bestätigte Aserbaidschan eine Feuerpause in der umkämpften Region Berg-Karabach bestätigt. Die Vereinbarung sei durch in dem Gebiet stationierte russische Soldaten vermittelt worden und gelte seit 13.00 Uhr Ortszeit (11.00 Uhr MESZ), meldete die staatliche aserbaidschanische Nachrichtenagentur Azertac am Mittwoch unter Berufung auf das Verteidigungsministerium in Baku. Den armenischen Kämpfern werde die Möglichkeit gegeben, ihre Positionen zu verlassen und sich zu ergeben. Am Mittwochabend meldete die Regierung von Aserbaidschan, der "Krieg" sei beendet.

Die Lage zwischen den beiden Ex-Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan hatte sich in den letzten Wochen stark zugespitzt. „Aserbaidschan hat im Verlauf der letzten Tage Streitkräfte entlang der Kontaktlinie mit Berg-Karabach und an der Grenze zu Armenien zusammengezogen“, sagte der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan gegenüber örtlichen Medien. In einer Fernsehansprache erklärte er, Aserbaidschan setze auch Bodentruppen ein. Ihr Ziel sei „ethnische Säuberung“ gegen die armenische Bevölkerung in der Region.

Warum streiten Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach?

Armenien und Aserbaidschan streiten seit Jahrzehnten um Berg-Karabach. 1918 wurde die Region erstmals zum Zankapfel, als beide Staaten ihre Unabhängigkeit erklärten. Später gehörten Armenien und Aserbaidschan der Sowjetunion. 1988, in der Endphase vor dem Zerfall des Riesenreiches, brach der Konflikt erneut aus. Der Status von Berg-Karabach ist völkerrechtlich umstritten, sowohl Aserbaidschan als auch Armenien erheben darauf Anspruch.

Berg-Karabach zählt aus UN-Sicht zu Aserbaidschan, hat aber 1991 seine Unabhängigkeit von der Regierung in Baku erklärt. 2020 eskalierte der Konflikt in einen Krieg mit zahlreichen Toten, der nach sechs Wochen mit einer von Russland vermittelten Waffenruhe endete. Aserbaidschan hatte zuvor weite Teile der Region erobert. In einem Waffenstillstandsabkommen mussten die Armenier mehr als 70 Prozent der zuvor von ihnen kontrollierten Gebiete in Berg-Karabach sowie besetzte aserbaidschanische Bezirke in der Umgebung abtreten.

Am Stadtrand von Stepanakert, der Hauptstadt der Region Bergkarabch, steigt nach einem Beschuss Rauch auf. Das Verteidigungsministerium in Baku teilte mit, dass Aserbaidschan lediglich lokale Anti-Terroreinsätze durchführe.
Am Stadtrand von Stepanakert, der Hauptstadt der Region Bergkarabch, steigt nach einem Beschuss Rauch auf. Das Verteidigungsministerium in Baku teilte mit, dass Aserbaidschan lediglich lokale Anti-Terroreinsätze durchführe. © IMAGO/SNA | imago stock

Warum hat Aserbaidschan gerade jetzt angegriffen?

Baku hofft darauf, dass sich Russland, lange die Schutzmacht Armeniens, nicht allzu stark engagieren wird. Einerseits ist Russland militärisch in der Ukraine stark gebunden. Andererseits will Russland es sich nicht mit der Türkei, der Schutzmacht Aserbaidschans verscherzen.

„Russlands zögerliches Agieren gegenüber Aserbaidschan zeugt offensichtlich von der Angst, das Land als wichtigen Wirtschaftspartner zu verprellen und den dahinterstehenden türkischen Verbündeten nicht zu provozieren“, meint Nadja Douglas vom Berliner „Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien“. Russland braucht die Türkei, das Land trägt die Sanktionen des Westens im Ukraine-Krieg nicht mit, viele sanktionierte Waren kommen auf diesem Umweg ins Land.

Wie stark sind beide Armeen?

Verlässliche Zahlen zu Größe und Bewaffnung beider Armeen gibt es nicht. Doch es ist davon auszugehen, dass die aserbaidschanischen Truppen den armenischen weit überlegen sind. Aserbaidschan ist durch seine Energieexporte ein reiches Land. Dem hat Armenien nichts entgegenzusetzen. Zudem hat das Land mit der Türkei einen starken Partner.

Welche Rolle spielt Russland? Wie reagiert Russland?

Eigentlich ist Russland die Schutzmacht Armeniens. Ein militärisches Eingreifen ist aber relativ unwahrscheinlich. Allerdings will Russland, das einen Militärstützpunkt im Land unterhält, auch nicht, dass sich Armenien zu sehr in Richtung Westen bewegt. Maria Sacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums, forderte nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters sowohl Aserbaidschan als auch Armenien dazu auf, das „Blutvergießen“ zu beenden. Russland sei besorgt über die Eskalation, Moskaus Friedenstruppen in der Region würden ihre Mission fortsetzen.

Der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan sagte in einer TV-Ansprache, Aserbaidschan setze auch Bodentruppen ein. Ihr Ziel sei „ethnische Säuberung“ gegen die armenische Bevölkerung in der Region.
Der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan sagte in einer TV-Ansprache, Aserbaidschan setze auch Bodentruppen ein. Ihr Ziel sei „ethnische Säuberung“ gegen die armenische Bevölkerung in der Region. © AFP (archiv) | KAREN MINASYAN

Wie geht es den Menschen in Berg-Karabach?

Schon vor Beginn der Kämpfe gehörte Hunger zum Alltag. Aserbaidschanische Truppen hatten vor Monaten den Latschin-Korridor geschlossen, die einzige Straßenverbindung zwischen Armenien und Bergklarabach. „Ich stand seit sieben Uhr morgens in der Schlange, dann ging das Licht in der Bäckerei aus“, erzählt Arshak Abramyan unserer Redaktion. Strom gibt es nur unregelmäßig seit der Blockade. Erst Stunden später konnten die Bäcker mit der Arbeit beginnen.

Es gibt buchstäblich Mangel an allem, erzählen die Einwohner von Stepanakert, der Hauptstadt der Region. Nahrungsmittel fehlen, Medikamente ebenso. Die Schlangen vor den Geschäften werden immer länger. Und Menschenrechtler vor Ort berichten von den ersten Hungertoten. „Manchmal kommt es vor, dass die Leute bis vier oder fünf Uhr morgens in der Schlange stehen und trotzdem ohne Brot nach Hause gehen“, erzählt Seyran Mailyan. Auch Gemüse und Obst seien kaum zu bekommen, sagt er.

In den Dörfern gebe nicht genug Diesel für die Lastwagen, die die Ernte in die Stadt bringen. Das ständige Anstehen sei besonders schlimm für ältere Menschen, meint Mary Asatryan, die stellvertretende Bürgerbeauftragte vor Ort. „Viele werden in den langen Schlangen ohnmächtig.“

Rauch steigt auf, nachdem Aserbaidschan seine Antiterroroperation in Bergkarabach gestartet hat.
Rauch steigt auf, nachdem Aserbaidschan seine Antiterroroperation in Bergkarabach gestartet hat. © Azerbaijani Defense Ministry/Handout / Anadolu Agency/ABACAPRESS/ddp images

Wird Aserbaidschan möglicherweise nicht nur Berg-Karabach angreifen?

Eine Ausweitung des Krieges in Richtung des unumstrittenen armenischen Staatsgebietes ist nicht auszuschließen. Armenien hat den UN-Sicherheitsrat und Russland zu Maßnahmen zur Beendigung des von Aserbaidschan begonnenen Militäreinsatzes aufgefordert. Es seien „klare und eindeutige Schritte zur Beendigung der aserbaidschanischen Aggression“ nötig, heißt es in einer von armenischen Medien verbreiteten Mitteilung des Außenministeriums in Jerewan.

Armenien hat sich dem Westen angenähert. Was ist an Reaktionen aus den USA und der EU zu erwarten?

Armenien versucht vorsichtige Schritte in Richtung Westen. Von den russischen Friedenstruppen sind viele Armenier enttäuscht. Ministerpräsident Paschinjan hat jüngst ein Zeichen gesetzt. Eine geplante Militärübung des Militärbündnisses OVKS, eine Art Gegen-Nato Russlands, hat er als zwecklos abgesagt. „Eagle Partner 2023“ heißt eine kleine, eher symbolische Militärübung mit den USA, die in diesen Tagen stattdessen durchgeführt wird.

In einem Interview mit der italienischen Zeitung „La Repubblica“ erklärte Paschinjan, Russland habe dabei versagt, Armenien vor den Aggressionen Aserbaidschans zu schützen. Trotzdem sind viele Armenier von Paschinjans Westkurs nicht überzeugt. Militärische Hilfe aus dem Westen erwarten sie nicht. Im Unterschied zur Ukraine ist Armenien geostrategisch nur von geringer Bedeutung.

Was bedeutet der Krieg für Europas Gasversorgung?

Insgesamt spielt Aserbaidschan in Sachen Energieversorgung eine wichtige Rolle. Für Prognosen allerdings, ob der jetzt wohl begonnenen Krieg, Auswirkungen auf Europas Gasversorgung haben wird, ist es noch zu früh.

Wie reagiert Deutschland?

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock nannte die Berichte aus der Region „dramatisch“. In den letzten Tagen habe es „intensive Gespräche der EU und USA mit Armenien und Aserbaidschan zur Deeskalation“ gegeben, so Baerbock.

„Die Zusage Bakus, von militärischen Maßnahmen abzusehen, wurde gebrochen.“ Sie forderte Aserbaidschan auf, den Beschuss sofort einzustellen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Entscheidend sei nun der Schutz der Zivilbevölkerung in Berg-Karabach. „Dies ist auch Aufgabe der dort stationierten russischen Soldaten“, erklärte die Ministerin.