Moskau. Sie war das fröhliche Gesicht der Proteste in Belarus von 2020 – nun, drei Jahre danach, weiß niemand, wie es Maria Kolesnikowa geht.

  • Maria Kolesnikowa, Symbol der belarussischen Proteste, verschwindet nach mutigem Widerstand gegen Lukaschenkos Diktatur
  • Gefangen im Straflager, bleibt Kolesnikowas Schicksal ein Rätsel
  • Nur ihr Vater durfte Kolesnikowa zuletzt noch sehen

„Geliebte Schwester, heute sind tausend Tage vergangen, seit du entführt wurdest“, sagt Tatsiana Chomitsch vor der Kamera. Es ist eine rührende Videobotschaft, veröffentlicht vor einigen Wochen. „Seit tausend Tagen können wir uns nicht sehen und umarmen, stundenlang reden, uns nicht mit der Familie treffen.“ Die letzte Nachricht von ihrer Schwester erhielt Tatsiana im Februar – eine Postkarte aus dem Straflager. Seitdem kamen keine Briefe mehr, keine Besuche sind möglich, und auch die Anwälte dürfen nicht zu Maria Kolesnikowa. Die Ikone der Massenproteste in Belarus ist verschwunden.

Alles begann heute vor drei Jahren mit der Präsidentschaftswahl. Gegen Machthaber Alexander Lukaschenko, den „letzten Diktator Europas“, wollten drei Männer antreten. Der Unternehmer und Ex-Diplomat Valeri Zepkalo, der Blogger Sergej Tichanowski und der Banker Viktor Babariko. Keiner der drei schafft es auf die Kandidatenliste. Zepkalo flieht noch vor der Wahl ins Ausland. Tichanowski und Barbariko landen nach fadenscheinigen Anklagen hinter Gittern. Doch die Frauen übernehmen.

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Nur Swetlana Tichanowskaja, die Lukaschenko angeblich ein „armes Ding“ nannte, lässt der Machthaber als Kandidatin zu. Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa, Babarikos Wahlkampfmanagerin, unterstützen sie. Das Foto der drei Frauen geht um die Welt. Maria formt mit ihren Händen ein Herz. Eine Geste, die zu ihrem Markenzeichen wird.

Kolesnikowa glaubt an den Erfolg der Proteste

Dreist manipuliert Lukaschenko das Wahlergebnis zu seinen Gunsten. Doch viele sehen Tichanowskaja als die wahre Siegerin, gehen für sie auf die Straße. Aus Tausenden werden Hundertausende, die monatelang demonstrieren. Immer mittendrin: Maria Kolesnikowa – ausgelassen singend und tanzend, auf dem Akkordeon begleitet von einem Freund. Auch als Zepkalo und Tichanowskaja längst schon ins Ausland vertrieben wurden, demonstriert Maria weiter, tanzt und singt. Sie glaube an den Erfolg, die Protestbewegung werde siegen, sagt sie im Interview mit der ARD, niemals würde sie das Land verlassen.

Maria Kolesnikowa war mittendrin in den Protesten, tanze und sang - bis zu ihrer Verhaftung.
Maria Kolesnikowa war mittendrin in den Protesten, tanze und sang - bis zu ihrer Verhaftung. © picture alliance/dpa/TASS | Sergei Bobylev

Am Tag nach diesem Interview wird sie von Lukaschenkos Schergen entführt, sie bringen Maria zur ukrainischen Grenze, wollen sie aus dem Land werfen. Die junge Frau zerreißt ihren Pass, kommt in Untersuchungshaft. Man verurteilt sie zu elf Jahren Haft im Straflager. Sie hätte eine Verschwörung zur verfassungswidrigen Machtergreifung vorbereitet, die nationale Sicherheit gefährdet und eine extremistische Organisation gegründet, heißt es in der Urteilsbegründung.

Belarus’ starke Frauen wurden vielfach geehrt

Geboren wurde Maria Kolesnikowa 1982 in Minsk, dort studierte sie an der Musikakademie Querflöte. Ihr Studium setzte sie in Stuttgart fort, Alte und Zeitgenössische Musik war ihr Fach. Seit dieser Zeit spricht sie perfekt Deutsch. Sie unterrichtete und organisierte Festivals. Sie sei ein großes musikalisches Talent, erzählt Galina Matjukowa, ihre frühere Flötenlehrerin in Minsk. Und ein Dickkopf, wenn es um Gerechtigkeit geht. „Für sie war das immer wichtig. Sie sagte, dass sich Kultur in einer unfreien Gesellschaft nicht entwickeln kann. Sie fühlte das auf eine sehr feine Art und Weise und konnte das durch Musik ausdrücken.“

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Seit ihrer Inhaftierung wurde Maria Kolesnikowa mit zahlreichen Preisen geehrt. Darunter auch, gemeinsam mit ihren beiden Mitstreiterinnen, mit dem Aachener Karlspreis 2022. „In Belarus hat der friedliche und noch immer brutal unterdrückte Aufbruch in die Zukunft ein weibliches Gesicht. Als mutige und starke Frauen haben sie der Diktatur die Stirn geboten“, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Maria Kolesnikowa wurde zu elf Jahren im Straflager verurteilt. Wie es ihr geht, weiß niemand.
Maria Kolesnikowa wurde zu elf Jahren im Straflager verurteilt. Wie es ihr geht, weiß niemand. © AFP | Ramil Nasibulin

Über Maria Kolesnikowas Haftbedingungen ist nur wenig bekannt. Sicher ist, im Straflager geht es wesentlich härter zu als in einem normalen Gefängnis. Laut Gesetz gibt es täglich 30 Minuten Hofgang, alle drei Monate darf sie ein kleines Paket empfangen. Schikanen sind an der Tagesordnung. Tatsiana Chomitsch sagt, ihre Schwester müsse sechs Tage die Woche Militäruniformen nähen. Für politische Gefangene gebe es viele verschiedene Strafen wie den Ausschluss von Sport- und Unterhaltungsaktivitäten oder den Entzug von Geschenken von Verwandten.

Nur ihr Vater durfte Kolesnikowa zuletzt noch sehen

Auch müssten politische Gefangene ein spezielles gelbes Emblem tragen, so Chomitsch. „Sie sagten, wenn du politisch bist, dann wirst du das spüren“, erzählt eine ehemals in Belarus inhaftierte Frau, die heute im Exil lebt, der britischen BBC. Mit 14 Frauen sei sie in eine Zelle mit vier Betten gesperrt worden. Duschen hätte es keine gegeben, auch keine Zahnbürsten oder Toilettenpapier.

Die Proteste in Belarus vor drei Jahren wurden vom Regime brutal niedergeschlagen. Nach UN-Angaben sind derzeit fast 1.500 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert. Einige sind bereits in Haft gestorben, so etwa der Künstler Ales Puschkin.

Im November des vergangenen Jahres erkrankte auch Maria Kolesnikowa schwer, musste wegen eines Geschwürs operiert werden. Danach wurde sie in die medizinische Abteilung des Straflagers verlegt, wo sie kurz ihren Vater sehen durfte. Es gehe ihr wieder besser, sagte ihre Schwester. Doch jetzt ist Maria verschwunden. Niemand darf sie sehen. Ihre Schwester nicht, und auch ihr Vater nicht mehr. Er sagt: „Auf unsere Nachfragen wird geantwortet, dass sie mit niemandem kommunizieren möchte.“

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