Dschenin. Die israelisches Regierung wertet den größten Militäreinsatz im Westjordanland seit über 20 Jahren als Erfolg. Doch es gibt Zweifel.

So viel Fleisch im Eiskasten, alles ist verdorben. Alia, eine ältere, alleinstehende Frau, sitzt gekrümmt auf einem Stuhl, neben ihr ein Eimer mit Putzwasser. Es ist Mittag, sie putzt seit Tagesanbruch, beseitigt die Splitter, den Ruß, die Scherben, Reste der israelischen Luftangriffe im Flüchtlingslager Dschenin, das ihr Zuhause ist. All das zerbrochene Glas wiegt aber nicht so schwer wie das viele Fleisch, das noch seit dem Opferfest vergangene Woche im Eiskasten ist. Israelische Bulldozer haben die Straßen aufgegraben und Wasser- und Stromversorgung gekappt. „Das muss ich jetzt alles wegwerfen“, sagt Alia. Die Palästinenserin macht Israel keine Vorwürfe. Sie klagt nicht über die alltägliche Gewalt. Sie schüttelt nur den Kopf und fragt: „Warum?“

Die Brutalität des Lebens im ständig schwelenden Krieg im Westjordanland zeigt sich nicht nur in den Opferzahlen, sondern auch in Küchen und Schlafzimmern. Dort, wo man nachts Ruhe finden sollte, drangen Gewehrpatronen und Tränengas ein, noch jetzt sieht man Einschusslöcher in den Wänden.

Israels Verteidigungsminister Gallant verkündet den Erfolg

Einen Tag nach dem Ende des israelischen Militäreinsatzes im Flüchtlingslager Dschenin, der die Straßen des Camps und mehrere Häuser in Schutt gelegt hat, schieben Bagger die Trümmer an den Straßenrand, Elektriker versuchen, wenigstens die Hauptadern des Stromnetzes zu flicken. Die Straßen sind voll mit Besuchern aus Dschenin, Nablus und umliegenden Dörfern. Sie bringen Brot, Gurken und jede Menge Wasserflaschen für die 14.000 Bewohner, die seit dem israelischen Angriff auch ohne Wasserversorgung dastehen.

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Zwischen den müden Ausgebombtem stolzieren haufenweise junge Männer mit Munitionsgürtel und Maschinengewehr. Sie marschieren auf, als hätten sie die Israelis in die Luft geschlagen. Früher oder später wird einer dieser jungen Männer bald wieder als Shahid, als Märtyrer, auf einem der Plakate an den Hausmauern gefeiert werden, weil er sich aufgemacht hat, um Israelis zu töten.

„Dschenin ist zu einer Produktionsstätte des Terrorismus geworden, aber wir haben dieser Entwicklung ein Ende gesetzt“, erklärte Israels Verteidigungsminister Joav Gallant nach dem Ende des größten Einsatz im Westjordanland seit mehr als 20 Jahren.

Notkrankenschwester aus Hagen versorgt die Verletzten

In den Straßen von Dschenin ist man anderer Meinung. „Das ist nicht das Ende“, sagt Ahmed Tobasi, der künstlerische Leiter des Freedom Theatre im Flüchtlingslager Dschenin, das durch die Luftangriffe ebenfalls leicht beschädigt wurde. „In den nächsten Tagen wird es weitere, kleinere Angriffe geben“, glaubt er. Er spricht aus Erfahrung. „Bei der letzten großen Invasion im Jahr 2002 war ich 17 Jahre alt. Es ist dieselbe Brutalität – nur, dass sie jetzt mehr Drohnen haben.“

Aufräumen nach der israelischen Militäraktion: Ein Mann sucht in seiner Wohnung in Dschenin nach allem, was noch nutzbar ist.
Aufräumen nach der israelischen Militäraktion: Ein Mann sucht in seiner Wohnung in Dschenin nach allem, was noch nutzbar ist. © AFP | AHMAD GHARABLI

„Einige der Patienten haben so starke Verletzungen, dass sie es wahrscheinlich nicht schaffen werden“, sagt Katja Strock. Die Notkrankenschwester aus Hagen ist als Freiwillige der Organisation Ärzte Ohne Grenzen (MSF) im Spital des Flüchtlingslagers tätig. Mehr als 160 Menschen wurden während des zweitägigen Einsatzes dort eingeliefert, „die meisten mit Schusswunden oder Granatsplitterverletzungen“, sagt Strock, „wir haben aber auch einige Hundebisse gesehen“.

Nahost-Konflikt: „Terrorismus hat keine Hauptstadt“

Im akuten Stress der Behandlung kam dann auch noch die Panik am Dienstag: Ein Tränengaskanister der israelischen Armee rollte in den Notaufnahmebereich, der sich direkt beim Eingang befindet. Blitzschnell breitete sich das Gas aus, Patienten fielen in Ohnmacht, erbrachen sich, rangen um Luft, erzählt Gabriel Naumann, humanitärer Leiter des MSF-Teams in Dschenin. Man könne von Glück sprechen, dass zu jenem Zeitpunkt kein Patient in kritischem Zustand vor Ort war, sagt Strock. „Medizinische Einrichtungen anzugreifen, das ist eine rote Linie“, kritisiert Naumann. Ein Armeesprecher erklärte, dass es sich um einen Kollateralschaden handle.

Israels Regierung sieht den Einsatz als Erfolg an. Skeptischer sind Militärexperten wie Tamir Hayman, der früher Leiter des Militärgeheimdienstes war. „Dschenin ist nicht die Hauptstadt des Terrorismus“, erklärt er. „Terrorismus hat keine Hauptstadt, er ist in den Herzen und Köpfen der Menschen verwurzelt.“ Indem man Bomben auf einen Schauplatz abwirft, „ist das Problem nicht gelöst“.

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