Braunschweig. Jedes fehlerhafte Bauteil, jedes Qualitätsproblem kam bei diesen gefürchteten Treffen des Ex-VW-Chefs und seinen Managern auf den Tisch

Alle zwei Wochen, in aller Frühe, soll sich Ex-VW-Chef Martin Winterkorn mit Ingenieuren und Managern in einem Büro der Wolfsburger VW-Entwicklungsabteilung getroffen haben. Als Audi-Chef hatte er den „Schadenstisch“ in Ingolstadt eingeführt, als er 2007 als Konzern-Vorstandsvorsitzender nach Wolfsburg kam, nahm er dieses Ritual und Führungsinstrument mit. Ein Schlaglicht darauf, wie es dort zugegangen sein mag, wirft eine Darstellung aus einem aktuell laufenden Gerichtsverfahren. Darin klagt der frühere Chef der Dieselmotorenentwicklung und Hauptabteilungsleiter gegen seine Kündigung.

Er berichtet, dass Winterkorn bei einem dieser „Schadenstische“ einen Top-Manager erst angebrüllt, schließlich sogar mit einer defekten Wasserpumpe an der Hand verletzt haben soll. Offenbar so, dass ein Sanitäter die Hand des VW-Managers behandeln musste. Sollte sich das wie geschildert ereignet haben, erinnert es eher an einen herrischen Vater, der sein Kind züchtigt. Nicht an einen Konzern-Chef, der mit einem erfahrenen Mitarbeiter spricht.

Der Kläger war bei diesem Vorfall nicht dabei, weiß davon aber offenbar durch Zeugenaussagen von Beschuldigten im Zusammenhang mit dem Abgas-Skandal.Er gab außerdem an, dass sich der Vorfall „in Minutenschnelle“ bei VW herumgesprochen habe. Winterkorns Rechtsanwalt widerspricht den Darstellungen, das Geschehen im Jahr 2012 sei ein Unfall gewesen, die Wasserpumpe sei Winterkorn beim Ablegen entglitten, dadurch habe sich der Top-Manager an der Hand verletzt.

Der „Schadenstisch“ war gefürchtet. „Wiko“ galt als detailversessen, als Qualitäts-Papst mit kurzer Zündschnur. Selbst gestandene, erfolgreiche Führungskräfte nahmen an den Treffen wohl mit Bauchschmerzen teil. Winterkorn ging es darum, dort Qualitätsprobleme bei Bauteilen zu analysieren und zu besprechen. Er ließ sich dann das „Winterkorn-Besteck“ reichen, schreibt Mark Schneider in seinem „Volkswagen“-Buch: Messer, Hammer, Lupe, Schraubenzieher. Einzelne Bauteile wurden untersucht, sollen schon mal durch den Raum geflogen sein.

„Ich bin ein emotionaler Mensch und ärgere mich über jeden Fehler. Besonders, wenn er zum zweiten Mal passiert“, sagte Winterkorn 2007 dem „Focus“. Es sei Chefsache, die Mitarbeiter auf eine „Null-Fehler-Mentalität“ einzuschwören. Professor Stefan Bratzel, Auto-Experte und langjähriger Kenner der Branche, sagt: „Wenn überzogene Anforderungen an Mitarbeiter gestellt werden und sich daraus ein Klima der Angst entwickelt, die vorgegebenen Ziele nicht zu erreichen, dann dreht es sich ins Gegenteil um und führt zu einer großen Belastung.“ Bratzel erinnert an den „Qualitäts-Fetischismus“ des einstigen Konzernlenkers, der sich selbst um Spaltmaße, also millimeterkleine Abstände von Bauteilen, kümmerte. „Diese Dimension wurde von Kunden gar nicht mehr gesehen“, sagt Bratzel.

Unter anderem der Perfektionismus des heute 72 Jahre alten Schwaben machte den VW-Konzern allerdings auch zum weltweit führenden Automobilhersteller.Mit seinem Förderer Ferdinand Piëch führte Winterkorn laut Bratzel ein hartes, aber erfolgreiches Regiment. „Man darf auch nicht vergessen, dass Qualitätsprobleme Autobauer dieser Größe richtig viel Geld kosten können“, sagt der Auto-Experte. Der frühere Weltmarktführer Toyota musste etwa wegen eines fehlerhaften Gaspedals allein in Europa 1,8 Millionen Autos zurückrufen, 2,3 Millionen zusätzlich in den USA.

Winterkorn sagte im Untersuchungsausschuss des Bundestags zum Abgas-Skandal im Jahr 2017: „Es ist nicht zu verstehen, warum ich nicht frühzeitig und eindeutig über die Messprobleme aufgeklärt worden bin.“ Nach Darstellung des VW-Konzerns wusste Winterkorn erst seit September 2015 von dem Betrug. Zeugen belasten ihn jedoch mit der Aussage, er sei bereits im Juli 2015, am Rande eines „Schadenstisches“, darüber informiert worden. Der Ex-Hauptabteilungsleiter wusste nach eigenen Angaben seit 2011 von der unzulässigen Software.