Wolfsburg. Ralf Brandstätter, operativer Chef der Marke VW, spricht im Interview über die Bedeutung des Golf 8 und des rein elektrischen ID.3.

Das Jahr 2019 ist für die Marke VW ein ganz besonderes: Im Oktober wird der Nachfolger des Brot-und-Butter-Autos Golf vorgestellt, wenig später der ID.3. Das rein elektrisch angetriebene Modell soll das Tor in ein neues Mobilitätszeitalter aufstoßen. Ralf Brandstätter, der das laufende Geschäft der Marke leitet, sprach im Interview mit Armin Maus und Andreas Schweiger, über Wandel, Verantwortung, Vorfreude und das Ausbalancieren der unterschiedlichen Märkte.

Herr Brandstätter, wie fühlt es sich an, operativer Chef der Konzern-Kernmarke zu sein?

Auf jeden Fall ist es eine besondere Verantwortung! Gemeinsam mit der VW-Mannschaft möchte ich den Wandel von Volkswagen zu einem führenden Unternehmen für individuelle Mobilität im elektrischen und vernetzen Zeitalter vorantreiben. In der Belegschaft spüre ich Aufbruchstimmung, Tatendrang und große Vorfreude auf das zweite Halbjahr. Es ist toll mit so einem hoch motivierten Team zu arbeiten, von denen ich mit vielen ja schon seit Jahren vertrauensvoll zusammenarbeite. Ich habe bei Volkswagen gelernt, bin mit der Region am Stammsitz eng verwurzelt und habe aufgrund meines Werdegangs und meiner vielen Stationen im Unternehmen eine hohe Identifikation mit der Marke.

Dabei sorgen Digitalisierung, die Transformation zur E-Mobilität und Produktanläufe für eine besondere Fülle an Aufgaben.

Das stimmt. Und ich bin sehr zuversichtlich, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Davon werden Sie sich in den kommenden Monaten selbst überzeugen können.

Weil dann der Golf 8 und der rein elektrische ID.3 präsentiert werden?

Ja. Auf der IAA Ende September präsentieren wir unseren ID.3 erstmals der Öffentlichkeit und stellen das neue Markendesign von Volkswagen vor. Kurz darauf folgt im Oktober die Weltpremiere des Golf 8. Die Mannschaft hat über Jahre an diesen beiden Modellen hart gearbeitet. Nun werden endlich die Früchte dieser Arbeit sichtbar. Das ist ein Schlüsselmoment für das Unternehmen. Alle sind deshalb hoch motiviert, man könnte sagen elektrisiert. Das erfolgreiche Prebooking des ID.3 gibt uns zusätzlichen Rückenwind. Dass schon über 22.000 Vorbestellungen vorliegen, zeigt, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen haben.

Hat der Golf trotz der starken Gewichtung der E-Mobilität noch dieselbe Bedeutung für Volkswagen wie bei früheren Modellwechseln?

Absolut. Denn noch lange Zeit brauchen wir beides: Moderne Verbrennungsmotoren und den E-Antrieb. Die Präsentation der neuen Golf-Generation ist nach wie vor ein besonderes Ereignis für die VW-Mannschaft. Er ist der Bestseller und Maßstab im Kompaktsegment, das Lieblingsauto vieler Menschen weltweit und Testsieger. Und das soll auch so bleiben. Der neue Golf wird die Erfolgsgeschichte weiter fortschreiben.

Was bringt der neue Golf mit?

Wir haben das Fahrzeug komplett überarbeitet. Das Design wird sportlicher. Trotzdem bleibt er seiner Linie treu. Durch das innovative Interieur mit Premiumfeeling und einer beeindruckenden Display-Landschaft wollen wir den hohen Ansprüchen unserer Kunden gerecht werden. Der Golf 8 ist voll vernetzt, bekommt moderne Fahrerassistenz-Systeme und einen intelligenten Sprachassistenten. Kurz gesagt: Wir digitalisieren die Kompaktklasse.

Die Planung für den Anlauf musste wegen Problemen mit der Fahrzeug-IT angepasst werden. Sind Sie jetzt im Plan?

Ein Modellanlauf ist immer eine Herausforderung. Wir sind zuversichtlich, dass wir unseren Kunden zur Markteinführung das komplette Ausstattungspaket anbieten können. Die Anlaufkurve steht und wird abgearbeitet. Nach der Weltpremiere im Oktober werden wir Anfang nächsten Jahres über 16.000 Händlern und Verkäufern den neuen Golf in der Autostadt in unserem neuen Veranstaltungsgebäude Hafen 1 präsentieren. Da, wo der Golf zu Hause ist – in unserem Werk in Wolfsburg. Für uns ist das ein „Coming-Home-Event“.

Was ist für Volkswagen die größte Herausforderung beim Golf 8

Die größte Herausforderung für Volkswagen insgesamt ist der beschleunigte Aufbau von mehr Software-Kompetenz. Das hat uns nicht nur der Golf 8 gezeigt. Auf die zunehmende Digitalisierung der Fahrzeuge haben wir erstmals in der Automobilindustrie mit der Schaffung eines eigenen Vorstandsressorts reagiert. In einer eigenen Software-Organisation sollen bis zu 5000 Software-Entwickler gebündelt werden. Wir wollen den Anteil der Eigenleistung bei der Software-Entwicklung von derzeit unter zehn Prozent auf über 60 Prozent und mehr steigern.

Die Vernetzung der Technik bringt auch eine Vernetzung der Arbeitsprozesse. Um die Herausforderung beim Golf 8 zu meistern, setzen wir auf drei Erfolgsfaktoren. Erstens: Unsere Mitarbeiter sitzen mit den Lieferanten gemeinsam dort, wo die Software für den Golf entsteht. Zweitens: Die agile Form der Zusammenarbeit. Und drittens: Schnelle Entscheidungen mit Unterstützung durch das Management. Wir haben in der letzten Phase der Serienentwicklung und Erprobung sehr gute Fortschritte erzielt.

Über Skype-Konferenzen werden weltweit über 1000 Software-Entwickler von Paris über Kairo bis Indien tagesaktuell eingebunden. Einige unserer Lieferanten haben diese Arbeitsweise daher zwischenzeitlich sogar übernommen.

Wie sicher ist der neue Golf vor Hacker-Angriffen?

Sowohl die Steuergeräte als auch die Software beinhalten Lösungen für die Cyber-Security. Wir haben dem Aspekt Sicherheit sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet.

Wird der neue Golf nicht vom rein elektrischen ID.3 abgehängt, der wenig später vorgestellt werden soll?

Der neue Golf wird ein hochmodernes Aggregate-Portfolio haben und seinen Beitrag zu einer umweltfreundlichen Mobilität leisten. Dazu gehört ein elektrifizierter Ottomotor, ein Mildhybrid, der erstmalig im Golf zum Einsatz kommt. Darüber hinaus wird es zwei Plug-In-Hybrid Varianten geben, mit denen der Golf bis zu 60 Kilometer rein elektrisch fährt. Der ID.3 schafft Reichweiten bis zu 550 Kilometern rein elektrisch.

Wir sprechen mit beiden Autos unterschiedliche Zielgruppen an. Der Golf-Fahrer ist möglicherweise etwas traditioneller, konservativer. Der Golf ist für ihn mit seinem zeitlosen Design ein vertrauter Begleiter mit top-moderner Technik. Der ID.3-Kunde möchte frühzeitig neue Trends besetzen und Neues ausprobieren. Natürlich spielt der Umweltgedanke beim ID.3 eine besondere Rolle.

Inwieweit sind beide Autos verwandt?

Beide Modelle werden auf Basis unterschiedlicher Baukasten-Systeme gefertigt. Der Golf basiert auf dem weiter entwickelten MQB. Der ID.3 wird das erste Auto des Konzerns auf der rein elektrischen MEB-Plattform sein. Der Wegfall des Verbrenner-Antriebsstrangs ermöglicht eine ganze neue Fahrzeug-Architektur. Wir können so bei Golf-Außenmaßen im Innenraum Platz wie im Passat anbieten, die Batteriekapazität erhöhen und die Kosten niedrig halten.

Wird der Modulare Elektrifizierungs-Baukasten (MEB) für die E-Modelle ähnlich ausgerollt wie der Baukasten für die Verbrenner-Modelle?

Ja, er wird weltweit ausgerollt. Bis 2028 wollen wir über alle Marken15 Millionen Fahrzeuge mit dem MEB bauen. Allein von der Marke VW sollen 22 Modelle kommen, die alle zur ID.-Familie gehören. Dadurch erreichen wir erhebliche Synergien und Skaleneffekte. Ziel ist es, ab 2022 mit unserer Rendite dauerhaft bei über sechs Prozent zu liegen.

Eine zentrale Voraussetzung für den Durchbruch der E-Mobilität ist der Aufbau der Ladeinfrastruktur. Wie ist der Stand?

Wir und die Händler bauen zehntausende Ladepunkte auf. Hinzu kommen bis 2020 europaweit
400 Schnellladestationen mit bis zu 2400 Ladepunkten an Fernstraßen und Autobahnen, die Volkswagen gemeinsam mit Industriepartnern unter dem Dach von Ionity aufbaut. Zudem bieten wir über unser Tochterunternehmen Elli Ladestationen sowie Anschlüsse und grünen Strom für Privatkunden an. Dennoch benötigt das Thema mehr Aufmerksamkeit. Alle müssen mithelfen, damit sich die E-Mobilität durchsetzt, auch die Politik.

Zu Beginn der Diskussion über die E-Mobilität gab es bei den Kunden drei große Vorbehalte: den zu hohen Preis für die Fahrzeuge, die zu geringe Reichweite und die fehlende Ladeinfrastruktur. Die ersten beiden Probleme haben wir lösen können: Der ID.3 wird so viel kosten wie ein vergleichbarer Golf, die Reichweite liegt je nach Batteriesystem zwischen 330 und 550 Kilometern. Auch die Ladegeschwindigkeit haben wir erhöht. Den Ausbau der Ladeinfrastruktur können wir jedoch nicht im Alleingang meistern.

Haben sie für den ID.3 einen politischen Preis angesetzt, damit das Auto rasch Marktanteile gewinnt?

Nein – das wäre bei einem Volumenmodell dieser Größenordnung nicht sinnvoll. Das Geschäftsmodell muss von Anfang an funktionieren. Unser Ziel ist die Kostenführerschaft bei rein elektrischen Fahrzeugen. Diese wollen wir durch unsere weltweit hohen Stückzahlen in Kombination mit eigener Kompetenz bei der Batteriezelltechnologie erreichen. Dazu gehören zum Beispiel die Pilotanlage zur Batteriezell-Fertigung in Salzgitter sowie die Planung, gemeinsam mit unserem schwedischen Partner Northvolt in die Batteriezell-Fertigung einzusteigen.

Wann hat Volkswagen die Entscheidung getroffen, die E-Mobilität auszurollen?

Die Geburtsstunde des MEB war im Oktober 2015, als es darum ging die Marke neu und zukunftsfähig aufzustellen. Volkswagen hatte damals eine erhebliche Absatzschwäche in den Kernregionen, eine zu niedrige Rendite, um Investitionen in Zukunftstechnologien stemmen zu können, und ein nicht zeitgemäßes Produktportfolio. Damals entstand eine erste flüchtige Skizze der neuen Elektro-Plattform.

Die Entscheidung den MEB weltweit auszurollen haben wir Anfang 2016 in unserer Strategie Transform 2025+ festgelegt. Seitdem arbeiten wir konsequent daran, bis 2025 mit einer Millionen Fahrzeuge Weltmarktführer in der Elektromobilität zu werden. Das ist der Fixstern in unserer Strategie. Dazu führen wir den MEB in Europa, China und Nordamerika ein. Weitere wesentliche Bestandteile unserer Strategie zur Neuausrichtung unserer Marke sind der Zukunftspakt sowie die „Roadmap Digitale Transformation“.

Was ist mit der SUV-Offensive, die nicht zur E-Mobilität passt?

Die SUV-Offensive ist ein wichtiger Bestandteil unserer Strategie. Das SUV-Segment wächst weltweit am schnellsten. Kunden lieben SUV. Wir benötigen Autos, die sehr erfolgreich sind und damit das Geld für die Entwicklung der E-Mobilität verdienen. Außerdem können wir auch auf der MEB-Plattform sämtliche Modelle vom ID.3 über SUV bis hin zum Bulli abbilden. SUV auf Basis des MEB haben wir mit dem ID.Crozz präsentiert. SUV und die E-Mobilität passen also sehr wohl gut zusammen.

Nach vielen Jahren deutlichen Wachstums gehen die Verkäufe der Marke VW auf dem wichtigsten Markt China zurück. Wie bewerten Sie diese Entwicklung – ist sie eine Delle oder der Beginn einer Krise?

Zunächst ist wichtig, dass wir in China Marktanteile hinzugewinnen, weil wir uns besser entwickeln als der Gesamtmarkt. Und dieser trübt sich vor dem Hintergrund der Handelsstreitigkeiten zwischen den USA und China ein. Ob und welche Lösung hier gefunden wird, ist aktuell schwer zu beurteilen. Perspektivisch erwarten Experten aber, dass der chinesische Automarkt von aktuell 22 Millionen Fahrzeuge auf 30 Millionen wächst. Dieser Markt wäre dann so groß wie Europa und Nordamerika zusammen. Wir sind als Marktführer in einer sehr guten Ausgangsposition, und der MEB ermöglicht es uns auch, auf den chinesischen Geschmack zugeschnittene Elektro-Fahrzeuge zu liefern.

Konzernchef Herbert Diess hat jüngst gefordert, dass die Marke VW in den USA stärker wachsen müsse. Das sei erforderlich, um nicht in zu große Abhängigkeit vom chinesischen Markt zu geraten. Wie soll dieses Ziel erreicht werden?

Wir haben unser Produktportfolio überarbeitet und bieten unter anderem SUV an, die den amerikanischen Geschmack treffen. Außerdem werden wir auch in den USA E-Fahrzeuge auf Basis des MEB anbieten. Dazu führen wir den MEB in unserem Werk in Chattanooga ein. So wollen wir in den USA unseren Marktanteil auf deutlich über 5 Prozent erhöhen.

Sie haben kürzlich über die Roadmap Digitale Transformation gesprochen. Wie geht es hier weiter?

Mit der Roadmap Digitale Transformation machen wir das Unternehmen nachhaltig fit für das digitale Zeitalter. Wir werden in den nächsten Jahren rund 4 Milliarden Euro zusätzlich zu den Vorhaben in unserem Ressort „Car-IT“ in Digitalisierungsprojekte in der Verwaltung investieren. Wir bauen neue Digital-Kompetenzen auf, stellen unsere Organisation in allen Bereichen schneller, schlanker und wettbewerbsfähiger auf.

Dazu erhöhen wir auch das Qualifizierungsbudget für unsere Mitarbeiter. Das haben wir gemeinsam mit dem Betriebsrat beschlossen. Denn: Wichtige Systeme sind teilweise nicht zukunftsfähig. Wir gehen jetzt in Arbeitsgruppen, um festzulegen, wie wir Bereich um Bereich effizienter werden können und die Umsetzung vorantreiben. Diese Effizienzfortschritte werden dringend benötigt, um gleichzeitig Softwarekompetenz aufbauen zu können.

Bei unserer Zeitung haben sich zahlreiche Zulieferer beschwert, weil Volkswagen zum Teil seit Monaten Rechnungen nicht beglichen hat. Wie ist der Stand der Dinge?

Zu den Verzögerungen ist es gekommen, weil unser rund 25 Jahre altes Buchhaltungssystem dringend ausgetauscht werden musste. Für die Verzögerungen, zu denen es trotz entsprechender Schulung der Mitarbeiter bei der Rechnungsbearbeitung kam, entschuldigen wir uns in aller Form. Um den aufgelaufenen Bestand abzuarbeiten, ist ein eigenes Team im Schichtbetrieb und an Wochenenden im Einsatz. Selbst Mitarbeiter aus der Produktion, die eine kaufmännische Ausbildung haben, helfen dabei.

Wir kommen voran, Mitte August werden wir wieder den Normalbetrieb erreichen. Das neue Buchhaltungssystem wird zudem dabei helfen, künftig die Rechnungsbearbeitung deutlich zu beschleunigen. Davon profitieren dann auch unsere Lieferanten.

Wo steht die Marke in fünf Jahren?

Volkswagen ist 2025 das führende Unternehmen für individuelle Mobilität, elektrisch und vernetzt. Wir verkaufen dann über eine Million Elektrofahrzeuge. Wir sind auf dem Weg, emissionsfreie Mobilität für alle zu ermöglichen – mit Fahrzeugen und Diensten, die die Umwelt schonen, bei den Kunden ankommen und die unseren wirtschaftlichen Erfolg sichern. Wir ziehen weltweit die besten Talente und Partner an. Und wir arbeiten hart daran, dass man Volkswagen dann wieder für unseren gesellschaftlichen Beitrag schätzt und respektiert.