Salzgitter. Europa-Experte Lehndorff nannte auf einer Tagung der IG Metall Salzgitter-Peine Gründe und entwarf Visionen für eine bessere EU.

Brexit, Flüchtlings-Diskussion, schwacher Rückhalt in Teilen der Bevölkerung – es gibt viele Belege, dass die Europäische Union in der Krise steckt. Und doch soll, nein muss die EU erhalten, gestärkt, reformiert werden. Das ist die Auffassung der Teilnehmer einer Tagung der IG Metall Salzgitter-Peine in Salzgitter. Ein Aspekt, der die Gewerkschafter besonders sorgt, sind die in vielen EU-Staaten erstarkenden Strömungen am rechten Rand des politischen Spektrums, in Deutschland etwa die AfD. Die Tagung befasste sich daher mit der Frage, wie es zu dieser Entwicklung kam und wie die Zukunft der EU besser gestaltet werden kann.

Europa-Experte Steffen Lehndorff von der Universität Duisburg-Essen ist überzeugt, dass die Krise der EU hausgemacht ist. Spätestens seit der Finanzkrise 2008 hätten Regierungen von EU-Staaten, darunter Deutschland, „die Solidarität in der EU untergraben und nationalstaatlichen Egoismus gefördert“. So sei eine „Konkurrenz-Union“ entstanden. Das dadurch abnehmende Vertrauen vieler Menschen in EU-Institutionen werde von rechten Parteien aufgegriffen und ausgenutzt. Lehndorff: „Die Rechten sind nicht Ursache der Krise, sondern Symptom.“

Als Beleg für seine These der „Konkurrenz-Union“ nannte der Wissenschaftler vier Beispiele. So fehle in der EU erstens eine gemeinsame Steuer- und Wirtschaftspolitik sowie ein daran gekoppeltes Prinzip der Umverteilung. Das führe dazu, dass reiche Staaten wie Deutschland mit seinem Exportüberschuss immer reicher würden, arme wie Griechenland immer ärmer. Um seinen Ausführungen Gewicht zu verleihen, richtete Lehndorff seinen Blick auf Deutschland. Auch bei uns würde es eine große Spreizung zwischen armen und reichen Ländern geben, wenn eine gemeinsame Steuer- und Wirtschaftspolitik des Bundes mit angekoppelter Umverteilung nicht vorhanden wäre. Ohne dieses System wäre etwa das Gefälle zwischen Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern viel ausgeprägter.

Lehndorff bemängelte zweitens, dass in der EU einheitliche Sozialstandards fehlten. Das führe zur Arbeitskräftewanderung und zu Sozialdumping. Bekannt sind Beispiele aus dem Logistikgewerbe, wo Fahrer aus Osteuropa in Deutschland zu Löhnen weit unter deutschem Niveau arbeiten. Als Gegenmittel sieht er die von der EU beschlossene Entsenderichtlinie, die vorsieht, dass entsandte Arbeitnehmer denselben Lohn erhalten wie ihre einheimischen Kollegen.

Mit Blick auf den Flüchtlings-Zuzug kritisierte Lehndorff drittens die „Abschottungspolitik“ in der EU. So würde zum Beispiel die „Kriminalisierung“ der Seenotrettung im Mittelmeer Schlepperbanden stärken. Als Fehler bezeichnete er das Dublin-Abkommen, das vorgibt, dass ein Asylantrag dort gestellt werden muss, wo der Antragsteller ankommt. Diese Praxis benachteilige südeuropäische Länder. „Solidarität hat für Deutschland keine Rolle gespielt“, kritisierte er.

Viertens vermisst Lehndorff eine stärkere Ausprägung demokratischer Strukturen. So sei eigentlich das EU-Parlament von zentraler Bedeutung. Weil aber der EU-Rat das letzte Wort habe, komme das EU-Parlament „nicht wirklich zur Geltung“. Lehndorff: „Der EU-Rat ist das Gremium der Staats- und Regierungschefs. Deshalb vertritt der EU-Rat nicht die Interessen der EU, sondern der einzelnen Regierungen.“

So weit die Bestandsaufnahme. Wie aber könnte die EU erfolgreicher werden? Auch auf diese Frage lieferte Lehndorff Antworten. So fordert er eine Stärkung des EU-Parlaments. Zugleich müsse eine gemeinsame Wirtschafts- und Umweltpolitik umgesetzt werden. Geeignet sei ein Großprojekt für die Modernisierung der Infrastruktur und für die Energiewende. Das müsse über den EU-Haushalt, die CO2-Besteuerung und eine gemeinsame Kreditaufnahme der EU-Länder finanziert werden.

Um die Sozialstands zu verbessern müssten nicht nur Arbeitnehmerrechte gestärkt werden, sondern Staaten Zuschüsse aus einem EU-Fonds erhalten, wenn sie die soziale Mindestsicherung verbessern. Die EU müsse daran arbeiten, die Ursachen für eine Flucht – etwa aus Afrika – zu bekämpfen. Dazu gehöre der Stopp des Exports von subventionierten Lebensmitteln. Europäische Städte, die sich bereit erklären, zusätzlich Flüchtlinge aufzunehmen, sollten dafür belohnt werden, schlug Lehndorff vor. Ferner sprach sich der Wissenschaftler gegen eine Aufrüstung Europas aus.

Wolfgang Lemb, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, betonte mit Blick auf die Arbeitnehmerrechte in der EU die Notwendigkeit, dass die Gewerkschaften selbst mehr Durchsetzungskraft entwickeln müssten. „Dies gilt in den jeweiligen Nationalstaaten – insbesondere in Osteuropa – aber letztlich für die europäische Gewerkschaftsbewegung insgesamt.“ Um bessere Arbeitnehmerrechte in Europa durchsetzen zu können müssten die pro-europäischen Kräfte gestärkt werden, sagte er und rief zur Beteiligung an der Europa-Wahl auf. Die Vision sei ein „Europa für die Menschen“.